1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Vorsichtig hob er den Sarkophag und hielt ihn ins Licht. Erschrocken zuckte Anne zurück, als ihr ein ägyptischer König in die Augen sah. Augen und Mund wirkten so lebendig, als wolle er im nächsten Augenblick etwas sagen.
„Habe ich Sie erschreckt?“, fragte Scherrer amüsiert. „Das wollte ich nicht. Es ist ein Sarkophag, der für ein Königsgrab gedacht war. Er wurde nie benutzt, deshalb durfte ich ihn auch mitnehmen. Zeigen möchte ich Ihnen aber das hier. Kommen Sie bitte.“
Anne trat näher, ihr Gesicht war jetzt ganz nah neben dem seinen. Sie spürte den feinen Duft seines Rasierwassers. Er war ganz auf die Schriftzeichen konzentriert.
„Können Sie es sehen?“, flüsterte er, als verrate er ein großes Geheimnis.
Anne schaute genau hin. „Es sind Abbildungen aus dem Totenbuch“, antwortete sie.
„Genau“, bestätigte Scherrer, dicht neben ihr. Gleich wird er mich küssen, dachte Anne, aber Scherrer war ganz in die Bilder und Zeichen vertieft. „Es ist mehr“, flüsterte er. „Ich glaube, in diesen Symbolen ist das Geheimnis des Todes verborgen. Wenn wir sie erst einmal lesen können, sind wir dem größten Geheimnis der Menschheit einen Schritt näher. Als ich diesen Sarkophag aus Ägypten mitnehmen wollte, ist mir etwas Eigenartiges passiert.“
Scherrer schwieg. Seine Gedanken waren wieder bei jenem seltsamen Tag in Luxor.
Der Zoll war die eigentliche Klippe, nicht die Wüste. Das wurde ihm klar, als ihn die Sprechanlage ausrief. „Dr. Scherrer zum Zoll, Dr. Scherrer aus Tübingen zum Zoll!“
Verhaftung?, dachte Scherrer und sah sich um. Die Reisenden warteten auf ihre Abfertigung, als sei das nichts Besonderes. Noch blinkten nicht die Lichter, die das Einchecken anzeigten. Niemand beachtete ihn. Nebeneinander standen oder saßen Menschen aus allen Nationen, aber sie nahmen keine Notiz voneinander. Suche ich etwa Hilfe?, dachte Scherrer. Suche ich ein Gesicht, an dem ich mich festhalten kann?
„Sind Sie Dr. Scherrer aus Tübingen?“, fragte eine junge Stimme hinter ihm. Erstaunt drehte sich Scherrer um. Da stand eine schlanke, junge Frau in blauer Dienstuniform. Irgendetwas irritierte ihn. Vielleicht der mandelförmige Augenschnitt, das breite Gesicht oder dass sie die Haare unter einem Kopftuch verborgen trug und nicht das blaue Schiffchen im Haar hatte wie ihre Kolleginnen. „Ich bringe Sie zum Zoll“, sagte sie. „Es gibt Schwierigkeiten.“
„Kennen wir uns?“, fragte Scherrer. Sie lächelte höflich über die plumpe Anmache. „Ich meine das nicht so“, stotterte Scherrer und ärgerte sich über sich selbst. „Ihr Gesicht.“
„Was ist damit?“ Jetzt sah ihn die junge Frau erstaunt an. „Es kommt mir so bekannt vor, als hätte ich Sie schon einmal gesehen“, antwortete Scherrer. „So ein Gesicht vergisst man nicht.“
„Soll das ein Kompliment sein?“, fragte die junge Frau und fuhr leise fort: „Man wird auf uns aufmerksam. Ich will Ihnen helfen. Stellen Sie keine weiteren Fragen. Überlassen Sie alles mir. Jetzt folgen Sie ganz unauffällig.“
Sie wandte sich ab und ging mit raschen Schritten durch die Halle voraus. Viele Blicke folgten ihr. Scherrer sah sich um und beeilte sich, ihr zu folgen. Kein Aufsehen, dachte er, aber das ist doch Hathor, die Göttin! Das flache Gesicht mit den mandelförmigen Augen. Das kann nicht sein! Trägt sie ein Kopftuch, damit man ihre Ohren nicht sieht? Ich war zu lange in Ägypten und seine Götter verfolgen mich nun.
Als habe sie seine Gedanken erraten, drehte sich die junge Frau um. „Wir haben gemeinsame Interessen. Das haben Sie gespürt und deshalb glauben Sie, mich zu kennen“, sagte sie. „Gehen Sie neben mir, dann fallen Sie weniger auf.“
Scherrer hielt sie am Arm zurück. „Was sind das für gemeinsame Interessen, die Sie da ansprechen? Was geht hier vor?“
Die junge Frau sah mit einem spöttischen Blick auf Scherrers Hand. Sofort ließ er den Arm los. „Vertrauen Sie mir einfach“, sagte sie. „Sie haben sich darauf eingelassen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie haben diesen Weg begonnen. Verlässt Sie schon jetzt der Mut?“
„Welchen Weg meinen Sie?“, fragte Scherrer.
„Ihre Suche nach der Unsterblichkeit“, antwortete die Frau lächelnd. „War nicht das der Grund, weshalb Sie ins Tal der Könige fuhren? Soll ich weitersprechen oder vertrauen Sie mir?“
„Sind Sie Hathor, die Göttin?“, fragte Scherrer.
Sie lachte ihn an. „Sie träumen, junger Mann. Aber welche Frau kann widerstehen, wenn sie für eine Göttin gehalten wird. Können wir weitergehen?“
Scherrer nickte verstört. „Entschuldigen Sie“, sagte er, „meine Nerven … dieses Land …“
„Ist voller Geheimnisse“, ergänzte die junge Frau. „In jedem Tourismusführer können Sie das nachlesen. Wundern Sie sich nicht. Vertrauen Sie mir einfach!“ Sie wandte sich ab und ging mit schnellen Schritten zum Zoll.
Selten habe ich mich so blamiert, dachte Scherrer. Was ist los? Warum bringe ich Vergangenheit und Gegenwart durcheinander? Aber sie hat die gleiche Figur und die gleiche Art zu gehen wie auf den Bildern an den Tempeln.
Der Zoll brachte ihn rasch in die Gegenwart zurück. Natürlich hatte man den Sarkophag beschlagnahmt und war gerade dabei, die Hüllen zu entfernen. Die junge Frau redete energisch auf die Zollbeamten ein, aber die ließen sich nicht beeindrucken.
„Sie müssen selber sagen, wer Sie sind und was Sie wollen“, sagte sie zu Scherrer.
„Ich bin ein Wissenschaftler aus Deutschland“, stellte sich Scherrer vor. „Dr. Dr. Scherrer, Botanisches Institut der Universität Tübingen.“
„Ein Botaniker?“, fragte der Zollbeamte, ein streng aussehender Mann im mittleren Alter mit einem gewaltigen Schnurrbart. „Wieso versuchen Sie einen Sarkophag außer Landes zu schmuggeln? Sie wissen doch, dass jegliche Ausfuhr von Altertümern verboten ist!“
„Das ist kein altertümlicher Sarkophag, sondern eine Nachbildung“, erklärte Scherrer. „Warten Sie. Ich habe die notwendigen Papiere bei mir.“ Er nahm aus der Brusttasche seines Maßanzuges einige Dokumente heraus. „Bitte sehr!“
Der Beamte studierte sie sorgfältig. „Wenn alles stimmt, müsste hier ein Firmenstempel sein“, sagte er und deutete auf eine Stelle an dem langen fest eingeschnürten Paket. „Öffnet bitte sorgfältig an genau dieser Stelle!“, wies er seinen Mitarbeiter an und sah triumphierend zu Scherrer hinüber. Natürlich werden sie nichts finden, dachte Scherrer und wandte sich ab. Da traf sein Blick den Blick der jungen Frau. Siegesgewiss lächelte sie ihm zu. Sie ist nicht von dieser Welt, dachte Scherrer. Ich kenne sie.
„Es ist alles in Ordnung“, sagte der Zollbeamte. „Wir haben das Siegel gefunden. Entschuldigen Sie!“
Scherrer sah sich um. Mit einer Verbeugung gab ihm der Beamte die Papiere zurück. Die anderen waren eifrig dabei, die Verpackung wieder sorgfältig zu verschließen.
„Wir können gar nicht genau genug kontrollieren“, sagte der Beamte entschuldigend.
„Wo ist die junge Frau?“, fragte Scherrer. „Die Frau, die eben mit mir sprach?“
„Hier ist niemand gewesen“, sagte der Beamte. „Sie kamen allein.“
„Aber Sie haben doch …“, setzte Scherrer an.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte der Beamte.
„Ja“, sagte Scherrer, „Ägypten ist ein geheimnisvolles Land.“
„So ist es“, bestätigte der Beamte.
Scherrer sah noch zu, wie sie den Sarkophag auf das Gepäckband legten, und beeilte sich, zu seinem Gate zu kommen.
„Professor Scherrer?“, fragte Anne verwundert.
Scherrer zuckte zusammen und legte den Sarkophag ins Dunkel zurück. „Meine Gedanken waren ganz woanders“, entschuldigte er sich. „Das habe ich bemerkt“, sagte Anne. „Sie haben auf den Sarkophag gestarrt und den Namen Hathor geflüstert. Das ist doch die ägyptische Göttin mit den Mandelaugen, oder?“
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