1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 „Bitte setzen Sie sich doch“, sagte Scherrer und bot ihr einen Platz auf der breiten Ledercouch an. Anne setzte sich und legte ihre Mappe auf den Marmortisch vor sich. Wie selbstverständlich nahm Scherrer ihre Unterlagen und legte sie zur Seite. „Darf ich Ihnen einen Sherry zum Empfang anbieten?“, fragte er. Anne nickte. „Unsere Köchin hat einen kleinen Imbiss für uns gerichtet. Das ist Ihnen doch recht?“, fragte er weiter, ohne eine andere Antwort als eine Bestätigung zu erwarten.
Anne zögerte einen Augenblick, bis sie mit einem strahlenden Lächeln nickte. Natürlich, genau das hatte sie erwartet. Aber sie würde mit der Situation schon fertig werden.
„Ich hoffe, unser Treffen kommt Ihnen nicht ungelegen?“, fragte Scherrer.
„Wenn es Ihnen keine Umstände macht“, sagte Anne leise.
Scherrer lachte markig. „Nein, so haben wir mehr Zeit!“ Er ging zu einer ägyptischen Büste und öffnete den Königskopf. „Amenophis der Dritte“, sagte er dabei. „Ein englischer Sammler hat eine Bar aus dem Kopf gemacht. Eigentlich ein Verbrechen.“
Sie ist so ganz anders als im Institut, dachte er und sah aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber. Dass mir das nicht eher aufgefallen ist. Sie ist hübsch und charmant. Die weißen Kittel im Labor verdecken die Persönlichkeit. Ein Hauch von Wehmut kam auf. So war es eben. Wissenschaft und Leben, wie schwer ließ sich das vereinbaren! Lächelnd entnahm er der Bar eine Flasche Sherry und zwei Gläser und kehrte zurück. Gekonnt schenkte er ein und setzte sich neben sie. Dann hob er sein Glas und sah ihr tief in die Augen. „Auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit!“
Anne hob ihr Glas. Scherrers Blick ging ihr durch und durch. Irritiert nippte sie am Sherry.
„Trinken Sie ruhig. Es ist bester, alter Sherry aus Irland. Ein Freund lässt mir regelmäßig Sendungen zukommen, die ich nur zu ganz besonderen Anlässen anbiete“, sagte Scherrer.
Anne überhörte geflissentlich die Schmeichelei. „Ihre ägyptischen Sammlungen sind wunderschön“, sagte sie. „Draußen habe ich die Katzengöttin bewundert. Ich habe eine solche Statue auf Abbildungen gesehen. Ich glaube, sie kommt aus Kom Ombo.“
„Oh“, sagte Scherrer, „Sie kennen sich in Ägypten aus?“
„Nein, ich bin noch nie dort gewesen, aber ich bewundere das große Wissen und die Kunst der Ägypter. Die Steinmetze verstehen es, die Dinge so natürlich wiederzugeben, als würden sie leben.“
„Wie schön Sie das sagen: Natürlich! So sehe ich das auch. Meterhohe Statuen, große Schriftzeichen in riesigen Säulen und doch trifft das Wort natürlich zu.“
„Waren Sie schon oft in Ägypten?“, fragte Anne. „Wie gern würde ich das Land einmal kennenlernen, das solche Statuen wie die Katzengöttin am Eingang hervorgebracht hat. Komisch, als ich vorhin an ihr vorbeiging, meinte ich einen Augenblick lang, sie schaue mich an.“
„So“, sagte Scherrer, plötzlich seltsam abwesend, „ich kenne das Gefühl. Eigenartig, in der letzten Zeit ist das schon öfter geschehen. Die Figuren haben mich ein Leben lang begleitet, aber nun scheinen sie mir etwas sagen zu wollen. Mit meinem Freund Nubi, einem ägyptischen Geschäftsmann, habe ich viele Ausgrabungen unternommen und einige Gegenstände mitnehmen dürfen. Sie scheinen für diese Kunst empfänglich zu sein.“ Als habe er gemerkt, dass er einen Augenblick geistig abwesend gewesen war, fügte er hinzu: „Entschuldigen Sie, ich war unaufmerksam. Möchten Sie noch von dem Sherry?“
Er lächelte sie an und war wieder ganz der Professor. Will er mich betrunken machen?, dachte Anne ein bisschen enttäuscht. Sie schüttelte den Kopf und ihre braunen Locken fielen ihr ins Gesicht. „Vielleicht später.“
Scherrer sah ihr junges Gesicht und ihre vollen Lippen und ein unbändiges Verlangen stieg in ihm auf, diese Lippen zu küssen. „Dann darf ich Ihnen meine größte Kostbarkeit zeigen?“, fragte er und erhob sich.
Neugierig stand auch Anne auf. In dem Augenblick klopfte es an der Tür. „Herein“, rief Scherrer ungehalten. Das Hausmädchen erschien mit einem silbernen Tablett, auf dem Teller mit duftenden Pastetchen standen.
„Ist es jetzt recht?“, fragte sie, als sie die Teller auf den Tisch stellte. „Sie haben es so bestellt.“
„Ist gut“, sagte Scherrer, „vielen Dank, Irmgard.“ Er wartete, bis Anne sich wieder gesetzt hatte. Die Zeit ist schlecht gewählt, ärgerte er sich, während er aus dem Königskopf eine Flasche Wein holte. Aber er fing sich rasch, entkorkte die Flasche und sagte: „Ein zarter Rosé-Wein von den Tübinger Hängen. Ich hoffe, Sie mögen so etwas.“
Anne nickte überrascht und ließ ihn einschenken. Scherrer hob das Glas, um mit ihr anzustoßen, da begann er zu husten. Er versuchte noch, sein Glas auf den Tisch zu stellen, doch der Husten ließ es nicht mehr zu. Schnell nahm Anne ihm das Glas ab, aber Wein tropfte auf den Tisch. Scherrer nickte dankend und bemühte sich, Luft zu bekommen. „Bitte!“, keuchte er und deutete auf den Tisch mit der Leselampe. Anne sah eine kleine Spraydose, sprang auf und holte sie. Scherrer rang um Luft, nahm das Spray und sprühte es in den Rachen. Das Medikament entfaltete rasch seine Wirkung und Scherrer konnte nach und nach wieder ruhiger atmen. „Entschuldigen Sie“, sagte er immer noch atemlos, „es ist mir furchtbar peinlich, aber der Husten lässt mich einfach nicht mehr los.“
„Waren Sie schon beim Arzt?“, fragte Anne besorgt.
„Mein Hausarzt hat mir das Spray gegeben“, antwortete Scherrer, der sich sichtlich besser fühlte, „damit bekomme ich so einen Anfall gut unter Kontrolle.“
Was man sieht, dachte Anne. Männer! Bestimmt war er nicht beim Arzt. Aber das war nicht ihr Problem.
Scherrer griff hinter die Lehne des Sofas und läutete. Sofort erschien das Hausmädchen. „Irmgard, würden Sie bitte den Tisch abwischen?“, sagte Scherrer und zu Anne: „Aber setzen Sie sich doch. Der kleine Zwischenfall sollte uns den Abend nicht verderben.“
Irmgard nahm die Teller zur Seite, wischte mit einem Tuch den Tisch ab und stellte die Teller wieder hin. Dann verließ sie diskret den Raum. Anne setzte sich vorsichtig und Scherrer wartete, bis sie die Gabel nahm, um die Pastetchen zu probieren.
„Es gibt wenige Frauen, die ägyptische Kunst wirklich verstehen“, sagte Scherrer. „Auch wenige Männer“, fügte er lächelnd hinzu. „Sehen Sie“, dabei zeigte er auf seine große Bücherwand, „die Hälfte meiner Literatur beschäftigt sich mit Gentechnik und die andere Hälfte mit Kunst, Mystik, Philosophie und eben auch Ägypten. Eigentlich zwei widersprüchliche Fachgebiete, und doch habe ich das Gefühl, sie würden zusammengehören.“
Anne probierte die Pastetchen. Sie waren ausgezeichnet.
„Viele meiner Kollegen sind der Meinung“, fuhr Scherrer fort, „dass moderne Gentechnik und Ägypten überhaupt nicht zusammenpassen würden, und belächeln mein Hobby. Aber ich glaube, dass die alten Ägypter wesentlich mehr wussten oder ahnten, als wir bisher entschlüsselt haben.“
„Das denke ich auch“, bestätigte Anne und nahm einen Schluck Wein. „Ich bewundere den Papyrus über Ihrem Schreibtisch im Büro. Die Szenen sind so lebendig, als wären sie erlebt und nicht erdacht.“
„Dann freue ich mich darauf, Ihnen meine größte Kostbarkeit zu zeigen“, sagte Scherrer begeistert. „Aber erst wollen wir essen.“ Er selber griff herzhaft zu und genoss die Pasteten.
Nach dem Essen griff er hinter die Lehne und läutete. Geduldig wartete er, bis Irmgard abgeräumt hatte und Gebäck auftrug. Sie stellte neue Weingläser hin. Scherer stand auf und entnahm dem König eine neue Flasche. Als Irmgard gegangen war, sagte er: „Kommen Sie. Ich bin neugierig, was Sie dazu sagen.“
Anne stand auf und sah verstohlen auf die Uhr. Fast zwei Stunden war sie schon in der Wohnung und es versprach, eine lange Nacht zu werden. Scherrer stellte die Weinflasche auf den Tisch und ging in eine Ecke des Raumes, die geheimnisvoll im Dunkeln lag. Neugierig folgte ihm Anne. Er beugte sich zu einem Gegenstand hinunter, der auf dem Boden lag. Der Husten begann wieder. Eine Mahnung daran, dass Krankheit und Tod immer nahe sind, dachte er. Hoffnung liegt nur in der Unsterblichkeit. Ob sie das verstehen wird?
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