Winfried Paarmann
Nur ein Wunder ist genug
Die Geschichte einer Entführung
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Inhaltsverzeichnis
Titel Winfried Paarmann Nur ein Wunder ist genug Die Geschichte einer Entführung Dieses eBook wurde erstellt bei
Das Reisevideo
Tag X
Der gebändigte Puma
Dozent A.D.
Patricia
Das weiße „Teufelspulver“
Der bekiffte Keyboardspieler
Der Gerichtstermin
Die „Cellowaldfee“
Die Gartenparty
Die rumänischen Freunde
Der unumkehrbare Beschluss
Der Autotausch
Fahrt nach Fâgâras
Der Weg zu den Gräbern
Die aufgebrochenen Särge
Der schützende Teppich
Der Junge Alexandru
Mit roher Gewalt
Flucht
Der Viehtransporter
Schokoladeneier aus der Luft
Das ganz natürliche Wunder
Impressum
Das Reisevideo
Lukas hatte sich unter die Gäste gemischt, die die Gartenparty für eine halbe Stunde unterbrachen, um im großen Empfangsraum der Villa ein Reisevideo anzuschauen. Ein älteres Ehepaar hatte es von einer kürzlich unternommenen Autofahrt durch Osteuropa mitgebracht. Der „Eiserne Vorhang“ war vor wenigen Jahren gefallen, es ging durch Ungarn, durch das nördliche Jugoslawien, dann durch Rumänien.
Der Film näherte sich dem Marktplatz einer rumänischen Kleinstadt, man sah einen Dorfbrunnen und davor einen Feuerschlucker, der kurz darauf mit bunten Ringen jonglierte, die Kamera wanderte zu einer alten Kirche, dann zurück auf den Marktplatz, vor einem Marktstand mit aufgehängten Blusen, Seidentüchern und Schuhen streifte sie zwei Kindergesichter, das eines dunkelhaarigen Jungen, etwa zehn Jahre alt, das eines dunkelblonden Mädchens, etwa zwei Jahre jünger.
Lukas riss es von seinem Stuhl, wie elektrisiert. „Halt! Halt!
Noch einmal zurück - die Stelle von eben!“
Er sprang zu dem älteren Ehepaar, das den Ablauf des Films über den Videoprojektor überwachte. Der Film lief zurück.
Wieder der Markplatz, die Kindergesichter.
„ Anhalten! Anhalten!“ rief Lukas. Er trat ganz nah an die Leinwand.
Er stammelte. „Sie sind es. Meine Kinder.
Sie sind es…
Dieser Marktplatz – wo ist es gewesen? Wie ist der Name der Stadt?“
Weder der Mann noch die Frau konnten ihm eine sichere Antwort geben. Es war ein kurzer Zwischenstopp auf ihrer Reise zwischen Brasov und den südlichen Karpaten. Doch sie versprachen, es herauszufinden.
Lukas blickte sich entschuldigend zu den versammelten Zuschauern um. „Ich habe an ihren Särgen gestanden. Jetzt vor eineinhalb Jahren…“, murmelte er.
Dies war geschehen:
Seine rumänische Frau war ohne sein Wissen mit dem Auto nach Rumänien aufgebrochen. Er selbst befand sich zu einer einwöchigen Gastdozentur in Kanada. Nie hätte er zu dieser Reise sein Einverständnis gegeben, schon gar nicht wenn sie diese Reise mit den Kindern allein unternahm. Doch ihre Sehnsucht, ihre Eltern in Rumänien wiederzusehen, vor allem den kranken Vater, war zuletzt unwiderstehlich geworden.
Er telefonierte täglich mit ihr, auch während sie schon auf Reisen war. Sie verriet es mit keinem Wort.
Dann blieben alle Versuche, sie zu erreichen, vergeblich.
Er telefonierte mit den Nachbarn. Die sagten, sie sei vor drei Tagen mit den Kindern im Auto aufgebrochen und seitdem nicht zurückgekehrt.
Es befiel ihn eine erste dunkle Ahnung.
Er versuchte, eine telefonische Verbindung in das rumänische Fâgâras zu den Eltern Catalinas, seiner Frau, herzustellen. Auch dies vergeblich.
Schließlich setzte er sich in den Flieger und kehrte nach Deutschland zurück. Er lieh sich das Auto eines befreundeten Kollegen aus und fuhr nach Rumänien.
Die Mutter Catalinas begrüßte ihn weinend.
Der tödliche Unfall lag bereits vier Tage zurück.
Die Särge der Kinder waren schon zugenagelt. Seine tote Frau konnte er noch einmal im Sarg liegen sehen.
Vor neun Jahren war sie vor ihrem prügelnden Ehemann mit ihrem damals einjährigen Sohn nach Deutschland geflohen.
Lukas hatte sie als Angestellte eines Hotels in Rumänien kennen gelernt. Es war „Liebe auf den ersten Blick“, wie man es nennt, auf beiden Seiten, doch jede Umarmung oder gar ein Kuss waren für die verheiratete Frau tabu.
Jetzt stand sie mit ihrem Sohn Alexandru bei ihm vor der Tür.
Lukas schloss sie sofort heftig in die Arme.
Ein Jahr nach der Hochzeit wurde die Tochter Adina geboren.
Es folgten glückliche Jahre. Keinen Tag davon hätte er hergeben wollen.
Dieser tödliche Unfall riss ihn in einen Strudel bodenloser Verzweiflung.
Zuletzt betäubte er den maßlosen Schmerz und die wachsende Leere mit kleinen Dosen Cannabis, bis die Rationen doch bald größere wurden.
Einmal, dann ein zweites Mal stand er leicht benommen und etwas lallend vor der Gruppe der versammelten Studenten seines Seminars. Er hatte jede Selbsteinschätzung verloren.
Sein Zustand war offensichtlich. Für einen Dozenten mit Vorbildfunktion ein unverzeihlicher Fehltritt. Es folgte die Suspendierung.
Nochmals ein Sturz ins Bodenlose.
Und eine Gerichtsverhandlung stand an.
Er, von dem man über alle Jahre seines bisherigen Lebens hätte sagen können, er sei „in einer Glückshaut geboren“ – attraktiv, schlank, dynamisch, verwöhnt von Erfolg - war endgültig ein gebrochener Mann.
Er hatte am Sarg seiner toten Frau und an den Särgen seiner toten Kinder gestanden und für immer Abschied von ihnen genommen.
Und jetzt geschah etwas, das ihn wie mit der Wucht eines Blitzes traf, der ihn innerlich fast versengte.
Seine Kinder lebten.
Irgendwo in Rumänien.
Was war geschehen?
Der Unfall ein inszeniertes Manöver?
Hatte der damals verlassene rumänische Ehemann grausam Rache genommen?
Der Tod Catalinas ein Mord?
Er musste aufbrechen. Aufbrechen in ein fremdes Land, in dem ein altes Clandenken und das Denken in archaischen Ehrbegriffen noch weit verbreitet waren.
Sein Leben sollte sich von diesem Moment an für immer verändern.
x x x x
Ich, der ich Lukas schon seit meiner Studienzeit zu meinen besten Freunden zähle, berichte es Schritt für Schritt.
Tag X
Lukas hatte endlich die Tabletten zusammen, die den friedlichen endgültigen Schlaf herbeiführen konnten.
Er trat hinaus auf den Balkon, es war Mitte Mai, die Luft vibrierte von Vogelstimmen, die parkenden Autos spiegelten im Licht der Frühlingssonne, die von einem klaren Himmel herabfunkelte, für Lukas doch blieb alles ohne Glanz. Nichts berührte ihn mehr. Die maßlose Trauer, die jetzt über Monate dauerte, hatte ihn von Innen zerfressen. Sein Entschluss stand fest.
Er kehrte in die Wohnung zurück, durchwanderte noch einmal die Zimmer: das Kinderzimmer mit den bunt bemalten Laken an den Wänden, den aufgehängten Kasperlepuppen, den zwei schmalen Betten mit dem Tigerentenüberzug am Fenster; das Zimmer seiner Frau mit dem Flügelspiegel und dem Frisiertischchen, der Vitrine, in der Vasen, Steine und Muscheln gesammelt waren. Schließlich suchte er wieder sein Wohnzimmer auf, wo er seit Monaten auf einer Matratze hauste und ein verwahrloster Schreibtisch mit ungeöffneten Papieren stand.
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