Für meinen Mann,
meine Töchter und meine Enkelkinder
Petra Hauser wurde 1950 in Karlsruhe geboren. Sie studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg und war über 30 Jahre lang als Lehrerin vor allem in der Erwachsenenbildung tätig. Ihren ersten Roman „Das Glück ist aus Glas“ veröffentlichte sie 2009 (6. Auflage, 2015). Es folgten die Novelle „Falsche Wimpern“ (2011), der Roman „Die Tage vor uns“ (2012), der Krimi „Binokelrunde“ (2014), der Roman „Heimatstadt“ (2016, 2. Auflage), „Das Geheimnis vom Weihnachtsgebäck“ (2018) sowie 2020 „Ein herrliches Vergessen“.
Petra Hauser
Die Ewigkeit
ist nur ein
Augenblick
Roman
einer badischen Familie
Lindemanns
Ein bisschen muss man immer
an der Wahrheit drehen,
wenn man sie in eine gute Geschichte
verwandeln will.
Man bricht den Lebensstoff in Stücke und fügt ihn wieder zusammen, in anderen, neuen Kombinationen, und manche sind real und manche sind es nicht, manche sind dokumentarisch und manche erfunden. Wer herausfinden will, was daran wahr ist und was nicht, muss schon ein rechter Kleingeist sein. Nichts davon ist wahr und alles davon ist wahr.
Wallace Stegner
Das Glücksgefühl meines Vaters (beim Erzählen) rettete ihn nicht nur, sondern trieb ihn zu Geschichten an und erhält ihn selbst jetzt noch in mir am Leben, wie eine zweite, geduldigere ... Seele in meiner ... Seele.
Sebastian Barry
Richard ...
... Löwenherz. Das denkt man gleich mit. Mancher tut es. Ich zum Beispiel. Weil er für mich das war: ein Mensch mit einem großen Herzen. Gutmütig. Tolerant. Seinen Mut abzuwägen, wäre mir nie eingefallen, weil ich ihn liebte. Ihn entschuldigte, wenn er etwas tat, was keiner verstand. Ihn verstand, weil ich ihn verstehen wollte, weil ich ihn liebte. Er war verschlossen, in sich gekehrt. Aber er konnte erzählen, ausführlich und detailversessen bis zur Schmerzgrenze des Zuhörers. Er legte nie das Vokabular des Soldaten ab, Kraftwörter gingen ihm glatt über die Lippen. Und gleichzeitig liebte er Gedichte, liebte Literatur, auch wenn sie schwierig war. Er liebte Heinrich Heine, Erich Kästner, Ringelnatz und Tucholsky, las alles von Arno Schmidt und Günter Grass, verstand die Theaterstücke von Samuel Beckett. Er hatte das absolute Gehör, konnte Gitarre, Banjo, Ukulele spielen, aber keine Noten lesen. Ich erinnere mich heute noch, wie gern ich ihm dabei zusah, wenn er eine Orange schälte. Geduldig, präzise, so als ob nicht der Verzehr der Orange das Eigentliche wäre, sondern die Befreiung der Frucht von der Schale. Er hasste alles Bürgerliche, musste aber tagtäglich einen Anzug mit Krawatte anziehen, weiße Hemden mit Manschettenknöpfen und zu den Kunden einer Baumaterialfirma fahren, für die er als Werkbüroleiter tätig war. Erfolgreich, denn die kleinen Bauern im Ländle vertrauten auf ihn. Wenn er zu ihnen kam, sich mit seinem schönen Anzug und den glänzend geputzten Schuhen mit den dicken Kreppsohlen auf ihre Baustellen führen ließ, sich dort die Problemzonen anschaute, stumm und aufmerksam zuhörte, wie die verzweifelten Kunden sich in Rage redeten, dann lag die Rettung schon in der Luft allein durch seine Anwesenheit, bevor er ein einziges Wort gesagt hatte. Sein Aftershave vermischte sich mit dem Duft der Reval, die er zu Dutzenden rauchte, immer und überall, auch im Schlafzimmer. Das ergab seinen unverwechselbaren wunderbaren eigenen Geruch, den ich jederzeit an jedem Ort erkannt hätte.
Als wir ihn tot in seinem Bett fanden, hielt er eine abgebrannte Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, das fragile Aschetürmchen blieb unversehrt, so lange wir neben ihm saßen und auf den Bestatter warteten. Richard hatte Humor und Charme und wirkte auf Frauen so, dass sie an ihrer Frisur herumzupften oder schnell den Lippenstift nachzogen, wenn er sich näherte. Nie habe ich erlebt, dass er eine Frau angemacht hätte. Er bemerkte ihre Bewunderung ohne darauf einzugehen und liebte nur seine Ehefrau. Sie war die Erfüllung seiner Träume. Und noch viel mehr. Sie heilte ihn von seiner Vergangenheit: der ehrgeizigen Mutter, dem Vater, dem er nie den anderen, verlorenen Sohn hatte ersetzen können, der ganzen Verwandtschaft, die erdrückende Erwartungen hatte an ihn. Seine Liebste, die er am Tag ihres Kennenlernens schon erwählte zur Ehefrau, bis dass der Tod sie scheiden würde, war die Einzige, der er von seinen Kriegserlebnissen erzählte. Sie erteilte ihm Absolution für alles, was er ihr beichtete. Er holte sie dafür aus einem zwölf Jahre schweren Alptraum in das ganz normale Leben zurück. Machte sie zu einer Ehefrau und zu einer Mutter, zu einer Schwägerin und Schwiegertochter. Gab ihr Gelegenheit, seine große Familie anzuerkennen als ein Anhängsel, das zu ihm gehörte, ihm wichtig war, auch wenn sie eigentlich jedes einzelne Mitglied dieser Familie aus irgendeinem Grund verachtete und sich nie zurückhielt, diese Verachtung zu formulieren.
Die Urgroßmutter
1951
Wilhelmine sitzt am Küchentisch. Es wird jetzt schon sehr früh dunkel. Wenn man sich nur mit Schmerzen bewegen und bei künstlichem Licht nicht mehr richtig lesen kann, bleibt fast nichts mehr, um sich die Zeit zu vertreiben.
Vor Wilhelmine liegt ein Brief. Gerade hat sie ihn fertiggeschrieben, ins Kuvert gesteckt, adressiert, eine Marke draufgeklebt. Später wird sie ihre jüngste Tochter Sofie bitten, ihn zum Briefkasten zu tragen. Und dann kann sie sich wieder einmal auf einen Antwortbrief freuen. Es ist ein Dankesbrief an ihre Schwiegertochter Hilde. Dank für die schöne Karte zu ihrem 78. Geburtstag. Über all ihre Kinder und Enkelkinder hat sie Hilde berichtet. Denn so geht es ihr tagtäglich, ihre Gedanken wandern von einem zum andern. Es ist ein Innehalten, Erinnern, Nachdenken, Grübeln, ein Fragen: Wie ist das so gekommen und warum? Wie wird es weitergehen? Erst das, was am Ende ihrer Überlegungen bleibt, ganz zum Schluss, wenn sie sich gezwungen hat dazu, auf Distanz zu gehen, auf den Standort einer alten Frau am Ende ihres Lebens, schreibt sie darüber in ihrer ganz eigenen Weise, fast ohne Satzzeichen mit eingesprenkelten Dialektwörtern, sprunghaft bisweilen aber doch mit einer gewissen Selbstsicherheit. Sie weiß, dass Hilde sich über ihren Brief freut. Die lateinischen Schriftzeichen mit den runden Schnörkeln am großen F, B, H, S und T werden zu Arabesken. Wie gemalt sieht das aus. Sie hat ja so viel Zeit!
Immer noch fällt es Mine nicht so leicht, die lateinischen Buchstaben zu verwenden, denn in der Schule haben sie ganz andere Zeichen gelernt. Aber vor rund zehn Jahren kam eines Tages ihre jüngste Tochter Sofie nach Hause mit einer Broschüre und einem leeren Schreibheft.
„So“, sagte sie mit einem bestimmten Ton, „Mutter, es gibt was zu tun für dich. Wenn du weiter deine vielen Briefe und diese hübschen Weihnachts- und Geburtstagskarten schreiben willst und sicher sein willst, dass auch deine Enkelkinder sie lesen können, jetzt und eines Tages noch einmal, wenn sie sie in ihren Schubladen finden und sich an dich erinnern, dann musst du umlernen.“
Sofie zeigte der Mutter den so genannten Normalschrifterlass. Tja, was man damals so normal nannte. Aber man musste sich ja beugen, wenn man weiterexistieren wollte, oder nicht? Immerhin blieb diese Schrift erhalten, auch nachdem das tausendjährige Reich des Herrn Hitler zu Ende war, nachdem alles in Schutt und Asche lag. Die vielen Toten, die ganzen Verbrechen! Ach, ach! Immer wieder schweifen Mines Gedanken ab in die Vergangenheit und dann zwingt sie sich, wieder in die Zukunft zu denken, an ihre Kinder, an ihre Enkel, mit denen das Leben nun weitergeht.
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