Technisch ist es heute möglich, selbst Teile des menschlichen Gehirns in Tiere zu übertragen. Die Ethik verbietet solche Experimente. Aber wird sich auch ein skrupelloser „Dr. Frankenstein“ im militärischen Geheimlabor ewig daran halten? Die Geschichte lehrt, dass der geistreiche Homo sapiens früher oder später versuchen wird, alles Denkbare in der Praxis auszuprobieren, ungeachtet jeder moralischer Bedenken. Dazu gehört auch die Erschaffung neuer Lebensformen, die es in der Natur nicht gibt. Nur ein fiktiver Brüller, oder könnte eine mythologische Chimäre wie der Löwenmensch eines Tages sogar zur leibhaftigen Wirklichkeit werden?
Verzierung, Schmuck oder Urzeit-Code?
Einige Details am Löwenmenschen überraschen: Das linke Ohr weist ein Dutzend quer verlaufende Ritzungen auf. Deutlicher noch sichtbar beim linken Oberarm: Er ist mit sieben parallelen Kerben versehen, die reliefartig wirken. Eine symbolhafte Tätowierung? Möglich wäre es. Wir finden allerdings ähnliche Bearbeitungs- und Ritzspuren auf nahezu allen plastischen Kunstwerken der Eiszeit. Es ist nicht anzunehmen, dass Mammuts oder Wollnashörner mit Tattoos oder Brandzeichen im Ache- und Lonetal herumliefen. Manchmal sind es ganze Strichbündel, ergänzt um V- und X-Zeichen, sowie Reihen kleiner, runder Vertiefungen. Wenn sie auf Knochen verewigt sind, werden die Linien zuweilen als Schnitte erklärt, die durch Feuersteinklingen beim Abziehen des Tierfells entstanden sind. Die meisten Werkzeugspuren sind jedoch gezielt gesetzte Markierungen.
Viele Archäologen deuten sie lediglich als Ornamente, die der Verschönerung des Kunstwerks gedient haben sollen. Nicht wirklich überzeugend. Was spricht gegen die Annahme, dass die Regelmäßigkeit der Zeichen bestimmte Ereignisse, kalendarische Daten und andere fixierte Informationen symbolisieren? Entwickelte sich in der Schwäbischen Alb der Vorläufer der Schrift? Verbergen die vielfältigen Kerben, Linien, Kreuze, Symbole und Punkte einen altsteinzeitlichen Kommunikations-Code, von dem wir Superintelligenzler des 21. Jahrhunderts keine Ahnung mehr haben?
Die Frage stellt sich ebenso bei bemalten Knochenfragmenten und Geröllsteinen mit Linien und geometrischen Mustern. Sie wurden in mehreren Höhlen der Schwäbischen Alb gefunden. Einige wenige Stücke werden ins Zeitalter des Löwenmenschen datiert, der überwiegende Teil stammt aus der letzten Epoche der Altsteinzeit, die vor etwa 12.000 Jahren mit dem Ende der Kaltperiode ausklang. Besonders zahlreich wurden derartige „Bildsteine“ in der französischen Höhle Mas d’Azil im Département Ariège gefunden. Auf rund 1400 flachen, ovalen Kieselsteinen, etwa 10 Zentimeter groß, befinden sich aufgemalte Zeichen, die teilweise an Buchstaben des späteren phönizischen, griechischen und lateinischen Alphabets erinnern. Sie sollen bis zu 14.000 Jahre alt sein. Ähnliche „Symbolsteine“ wurden in einer Grotte bei Rochedane in Ostfrankreich entdeckt und in der Höhle von Birseck bei Basel, die allerdings Spuren gewaltsamer Zerstörung aufweisen.
Weshalb weisen die meisten plastischen Eiszeitkunstwerke geometrische Ritzspuren auf?
In vielen Höhlen der Eiszeit, auch in der Schwäbischen Alb, wurden bemalte Kieselsteine gefunden. Ihre Bedeutung ist unklar.
Filigrane Kleinode aus Mammutelfenbein. Was war ihr Zweck?
Joachim Hahn, jener emsige Urzeitdetektiv, der den „Löwenmenschen“ im Ulmer Museumsdepot wiederentdeckte und erstmals rekonstruierte, deutet die Bemalungen unverblümt als „symbolische Zeichen, ähnlich einer Gedächtnisstütze, die gewisse Botschaften übermittelte“. Bereits 1973 brachte der Paläontologe das Dilemma bei der Beurteilung dieser bemalten Muster auf den Punkt. In seinem Standardwerk „Eiszeithöhlen im Lonetal“ bedauert er: „Da uns aber der Schlüssel, der Code zu diesem möglichen Vorläufer der Schrift fehlt, können wir weder die Botschaft dieser abstrakten noch der figürlichen Zeichen lesen.“
Steckt vielleicht auch hinter den jüngsten Entdeckungen der Schwäbischen Alb kein Kult, sondern verlorenes Wissen? Gemeint sind einzigartige „Schmuckstücke“ aus Mammutelfenbein, die die Anfänge der Eiszeitkunst noch einmal weiter zurück in dunkle Vergangenheit rücken. Sie wurden in großer Zahl in mehreren Höhlen der „Löwenmensch-Region“ entdeckt und sind 42.000 Jahre alt! Für die Eiszeitforschung sind sie so bedeutend, dass sie als „Fund des Jahres 2017“ im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren einen Ehrenplatz erhalten haben. „Es ist der bislang älteste Nachweis für die komplexe Herstellung von Elfenbeinperlen weltweit“, erklärt dazu der Archäologe und Museumsleiter Professor Dr. Nicholas J. Conard.
Der Prähistoriker Nicholas J. Conard machte in den Höhlen der Schwäbischen Alb spektakuläre Entdeckungen, die den Ursprung der Eiszeitkunst weiter zurück in die Vergangenheit datieren.
Die geschnitzten Kleinode, meist nicht größer als ein Zentimeter, weisen eine Machart auf, die bisher nur aus der Schwäbischen Alb des Aurignacien-Zeitalters bekannt ist. Sie zeigen eine verblüffende Formenvielfalt und sind fast alle doppelt und dreifach gelocht. Prähistoriker vermuten, dass es Knöpfe, Abzeichen oder Wappen der damals im Ache- und Lonetal lebenden Menschen waren. Über den langen Zeitraum von 6000 Jahren ist dieser spezielle „Modestil“ nachweisbar. Dienten die Wertsachen nur als Zierrat? Oder könnten sie ebenso gut bereits fixierte Sprachinformationen enthalten haben?
Welche Bedeutung ist dem Löwenmenschen beizumessen? War er ein sakrales Kultobjekt? Das Abbild einer Gottheit oder ein angehimmeltes Fabelwesen? Ein heiliger Gegenstand? Gab es eine reale Person, die für das Mischwesen einst Pate stand? Ein Stammesoberhaupt oder ein Schamane in seiner Kluft, verkleidet mit Tierhäuten? Welcher kreative Impuls förderte vor mehr als 40.000 Jahren den genialen Schaffensdrang? Drängende Fragen, die vorerst unbeantwortet bleiben. Vielleicht für immer. Eines aber ist gewiss: Der Löwenmensch muss innerhalb seiner Gruppe eine besondere Verehrung genossen haben. Wie sonst ist es zu erklären, dass der unbekannte Künstler für die Herstellung seines Glanzstücks enorm viel Mühe, Zeit und Know-how investierte?
Die Lage der Figur im Mammut-Stoßzahn
Im Zuge der Restaurierungsarbeiten wurde festgestellt, dass der Löwenmensch aus einem rechten Stoßzahn eines ausgewachsenen Mammuts geschnitzt, geschabt, geraspelt und geschliffen wurde. Der Eiszeit-Michelangelo wählte dafür den härtesten Zahnbereich aus. Mehr noch: Die Krümmung des Stoßzahnes wurde bei der Fabrikation mitberücksichtigt und bei der aufrechten Haltung ausgeglichen. Der Könner hat nicht einfach auf gut Glück zu schnitzen begonnen. Er muss sein Werk vorher geplant und genau durchdacht haben. Zufall oder nicht: Der Nervenkanal des Zahns verläuft vom Schritt exakt durch die Mitte der Figur und tritt am Kopf wieder aus. Nach altindischen Sanskrit- und Yogalehren verlaufen im Körper genau dort die Energiezentren der sieben Hauptchakren.
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