Hüter des Löwenmenschen: Kurt Wehrberger, stellvertretender Direktor des Ulmer Museums
Mit dem Löwenmenschen sind noch etwa 50 weitere fantastische filigrane Kunstwerke in vier Höhlen der Schwäbischen Alb entdeckt worden. Die Fundorte klingen kauzig: Hohlenstein-Stadel und Vogelherd (beide im Lonetal) sowie Geißenklösterle und Hohle Fels (beide im Achtal). Die ältesten handtellergroßen Plastiken sind 40.000 Jahre alt, die jüngsten 30.000 Jahre. Gleiches gilt für acht Flöten aus Geier- und Schwanenflügelknochen sowie Mammutelfenbein. Sie haben unterschiedliche Tonlagen und gehören zu den ältesten Musikinstrumenten der Welt. Das hohe Alter der Kunstwerke bereitet manchem klassischen Prähistoriker noch Kopfzerbrechen. Doch das Fazit aus den Radiokohlenstoffdatierungen und stratigrafischen Befunden ist eindeutig: Die Wiege der Kunst lag nicht anonym im „Irgendwo“, sondern direkt vor unserer Haustüre, mitten in Süddeutschland!
Menschlicher Körper mit Löwenkopf: Wandrelief der ägyptischen Göttin Sachmet
Bei meinem Besuch habe ich Glück und genieße eine besondere Ehre: Kurt Wehrberger, der auch stellvertretender Museumsdirektor ist, lässt es sich nicht nehmen, persönlich durch die archäologische Sammlung mit ur- und frühgeschichtlichen Exponaten aus über 80.000 Jahren Menschheitsgeschichte zu führen. Highlight ist und bleibt der „Löwenmensch“ aus der Aurignacien-Kultur, dem das Museum im 1. Stock einen eigenen, imposant gestalteten Themenbereich gewidmet hat. Jeder Gast, der vor der Vitrine des Löwenmenschen verweilt, ist fasziniert und erstaunt über die ästhetische Ausdruckskraft des aufrecht stehenden Wesens mit leicht gespreizten Beinen und herabhängenden Armen. Es hat zweifelsfrei den Körperbau eines Menschen. Der Kopf dagegen ist der eines Löwen. Die Schnauze deutet ein Lächeln an und der Blick ist in die Ferne gerichtet. Im Angesicht dieser Tier-Mensch-Figur werde ich an die Gestalt anderer Mischwesen erinnert, die mir aus der altägyptischen Mythologie bekannt sind: die mächtige Schutzgöttin Sachmet und die sanftmütige Katzengöttin Bastet. Beide werden meist stehend in Menschengestalt mit Tierkopf dargestellt. Auch im alten Babylon und später in der griechischen und römischen Historie wird von Hybriden – halb Mensch, halb Löwe – berichtet. Der Löwenmensch aus der Stadel-Höhle entstand jedoch locker 35.000 Jahre früher. Ein gewaltiger Zeitsprung, der nur unter Zuhilfenahme einer Zeitmaschine zu überbrücken wäre, dennoch springt dem Betrachter die optische Parallele der Wunderwesen ins Auge.
Geschlechterzwist und Mutanten
Er glaubte an eine „Übersinnliche Welterkenntnis“ und begründetedie Anthroposophie: Rudolf Steiner
Im Zuge der Neurenovierung und Ergänzung von Bruchstücken hat sich das Erscheinungsbild des Löwenmenschen verändert. Ging man wie erwähnt anfangs noch davon aus, dass die Statuette eine Löwenfrau verkörpert, sehen das Archäologen nunmehr anders: „Es ist ein Mann!“ Für die gelungene Umwandlung zum maskulinen Geschlecht wird ein dreieckiges Plättchen als Beweis angeführt, das im Schambereich in zugespitzter Form zum Boden weist. Es wird als „stilisiertes männliches Geschlechtsteil“ interpretiert. Doch mich plagen Zweifel. Könnte ein „Dreieck“ im Intimbereich nicht ebenso gut das genaue Gegenteil von Männlichkeit bedeuten? Oder sollte damit vielleicht ein Schurz angedeutet werden? Oder das Löwenfell? Könnte es als Schnitzwerk zwischen den Beinen stilisiert herunterhängen und den Eindruck eines männlichen Gemächts vermitteln? Hinzu kommt, dass immer noch viele Stellen an der Statuette fehlen. Das gilt besonders für Flächenbereiche des Ober- und Unterkörpers. Anderseits, wenn weiblich, muss man zugestehen, dass der Körper nicht den bekannten üppigen Frauenfiguren der Altsteinzeit entspricht. Also doch ein echter Kerl? Oder womöglich ein Mischwesen, nicht nur im Sinne von Tier-Mensch, sondern auch Weibchen-Männchen?
Die tollkühnste These postulierte der umstrittene österreichische Esoteriker und Philosoph Rudolf Steiner (1861 – 1925). Vom eiszeitlichen Kunstwerk in Gestalt eines Löwenmenschen konnte er nichts gewusst haben. Die Eiszeitplastik war zu seiner Zeit noch nicht entdeckt. In der von Steiner begründeten Anthroposophie werden spirituelle Weltanschauungen, christliche Mystik, religiöse Gnosis, fernöstliche Lehren und naturwissenschaftliche Erkenntnisse miteinander verbunden. Eine besondere Rolle spielt hierbei die „Akasha-Chronik“. Nach theosophischer Ideologie ist es das geistige Weltgedächtnis mit den feinstofflichen Aufzeichnungen aller Ereignisse aus fernster Vergangenheit. Spirituell begabte „Geistesforscher“ sollen imstande sein, dieses „gespeicherte“ weltumspannende Wissen abzurufen. 1913 beschrieb Steiner diese Fähigkeit als einen „nach rückwärts gerichteten hellseherischen Blick“. Daraus leitet sich die absonderliche theosophische Überzeugung ab, dass die Erde in Urzeiten von androgynen Wesen bevölkert war, die jeweils das weibliche und männliche Geschlecht in sich vereinten. Dazu zählten auch die Löwenmenschen. Mit dem Sündenfall, so wird behauptet, sei es dann zur Geschlechtertrennung gekommen. Aus den weiblichen Löwenmenschen, mit einer Art entgegengesetztem männlichen Astralkörper oder Ätherleib, sei das Frauengeschlecht hervorgegangen. Aus Stiermenschen im Stil von Minotaurus entsprang die Männerwelt.
Berühmte Sagengestaltder Antike: die Chimäre von Arezzo, eine Kreatur aus Löwe, Ziege und Schlange. Etruskische Bronzeskulpturim Archäologischen Museum von Florenz. Mischwesen sind im Zeitalter genmanipulierter und künstlich geschaffener Lebewesen keine Utopie mehr. War die Zukunft bereits gestern?
Ein Erdball mit Mutanten? Groteske Mischwesen – halb Mensch, halb Tier – sind populäre Motive aus der Antike, der lebendigen Mythologie bei Naturvölkern, der Geisterwelt des Schamanismus, der bunten Fabelwelt, der fantasievollen Kunstgeschichte und dem Fantasy- und Science-Fiction-Genre der Gegenwart. Auch in der Realität ferner Zukunft? Wissen wir, sollte der Homo sapiens kein Auslaufmodell sein, wohin uns die Evolution und biomedizinischer Forschergeist noch führen werden?
Eine Meldung, die man für eine Fake News halten könnte, sorgte im Jänner 2017 für internationales Aufsehen: Forscher des „Salk Institute for Biological Studies“ in Kalifornien erschufen ein Mischwesen zwischen Mensch und Schwein. Die Ergebnisse wurden im medizinischen Fachblatt „Cell“ dokumentiert. Demnach war es den Wissenschaftlern gelungen, einen Schweineembryo mit menschlichen Zellen über vier Wochen am Leben zu erhalten. Sie wollten mit den Gentests herausfinden, ob in Tieren mit Menschenzellen menschliche Organe heranwachsen können. Bereits in den 1980er-Jahren gab es umstrittene Versuche, bei denen menschliche Gene in Mäuse eingepflanzt wurden. Biotechniker hoffen, auf diese Weise einmal Ersatzorgane für kranke Menschen „züchten“ zu können. Kritiker befürchten hingegen, dass ein Mischwesen allzu menschlich werden könnte und die Experimente außer Kontrolle geraten.
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