Auch dieses zweite Beispiel eines vermeintlichen Defektes verweist pointiert auf die professionelle Verantwortung eines reflektierten Umgangs mit Normen, also den Wahrnehmungsmustern, die pädagogisches Handeln bewusst oder auch unbewusst leiten. Dies lässt sich anhand von vermeintlichen Defekten, also »Normverstößen«, wie folgt zuspitzen: Werden Defekte, wie die »Pfützenbildung aufgrund eines verstopften Abflusses«, ein »tropfender Wasserhahn« oder auch etwas ganz Alltägliches, wie ein heruntergefallener Teller, von Pädagog*innen möglichst schnell abgestellt beziehungsweise beseitigt, weil sie nur als Defekt bzw. defizitär wahrgenommen werden? Werden die Kinder von ihrem Spiel mit diesen Erfahrungsfeldern abgehalten, in Bezug auf die hier gewählten Beispiele, wegen vermeintlicher Wasserverschwendung und der Möglichkeit, nass oder schmutzig zu werden oder der Gefahr, sich an Keramikscherben zu schneiden? Oder werden die eigensinnigen Spielformen, die sich erst durch die vermeintlich dysfunktionalen Gegebenheiten ermöglichen, nicht als unerwünscht wahrgenommen, sondern vielmehr als diverse und reiche Wahrnehmungs- und Handlungsfelder angenommen, wertgeschätzt und sogar eventuell ausdifferenzierend begleitet und die Kinder ermutigt, mit diesen gestalterisch-handelnd zu interagieren. Selbstverständlich geht es nicht darum, mit den hier aufgeführten Beispielen den Eindruck zu erwecken, dass diese Haltung nur im Umgang mit vermeintlichen Defekten notwendig oder wichtig ist. Anhand der beschriebenen Situationen soll vielmehr die Notwendigkeit zugespitzt werden, offen gegenüber der Spontanität kindlichen Bildungshandelns zu sein. Es geht darum, reflexiv-achtsam gegenüber einer vorschnellen normativen Bewertung zu sein, da sonst gerade ästhetische Erfahrungen, die sich überraschend aus Alltagssituationen ergeben und zu wunderbaren Bildungsprozessen entwickeln können, nicht wahrgenommen, begleitet oder sogar zerstört werden. Neben den Pädagog*innen sind die Eltern sicherlich die bedeutsamsten Anderen im Leben der Kinder. Insofern ist es wichtig, dass die Eltern im Sinne der in diesem und in den folgenden Abschnitten ausgeführten Perspektive auf Bildung mit ins Boot geholt werden. Zum einen geht es dabei um ganz praktische Aspekte, zum Beispiel warum es wichtig ist, dass sich Kinder schmutzig machen, aber auch um eine bildungstheoretische Positionierung gegenüber etwaigen unterschwelligen oder auch expliziten Erwartungen von Eltern.
3.2.2 Die Relevanz des Anderen
Für die Darstellung der Bedeutung des Anderen für Bildungsprozesse ist es zunächst wichtig, nochmals auf die eingangs ausgeführte elementar-ästhetische Bildungsperspektive zurückzukommen. Einer ihrer wesentlichen Aspekte war die Verschränkung von Selbst- und Weltwahrnehmung. Das heißt, von der Frage, welche Sinnesgegebenheit sich zu ästhetischen Erfahrungsprozessen entwickeln und zu explorativen Phänomenerkundungen ausdifferenzieren kann, hängt beides ab: Wie differenziert und vielfältig das Bild der Welt ist, das sich Kinder aufbauen, und wie vielfältig und differenziert das Bild ist, das sie sich von sich selbst bilden können. Jedes Ding und die Phänomene, die mit ihm möglich werden, erzählen etwas darüber, was die Welt ist, und zugleich, wer wir in Relation zu dem Phänomen sind. Das eröffnet ein ganz neues Verständnis des Zusammenhangs von Inklusion, Partizipation und Diversität aus einer elementar-ästhetischen Bildungsperspektive: Die Zugänge, die uns mit der Welt zur Verfügung stehen, sind sowohl entscheidend für die Vielfalt der Erfahrungen der Welt und von uns selbst als auch des Bildes, das wir uns von Welt und uns selbst machen können! Konkret lässt sich das für den stets normativ geprägten Ort Kita auf die provokante Frage zuspitzen: Wieviel Welt kann und darf ein Kind erfahren und welchen Zugang bekommt es darüber zu sich, kann es sich selbst entwickeln, wie darf es sich selbst und die Welt überhaupt erfahren und kennenlernen? Es geht hier im Kern um eine elementar-grundlegende partizipative Perspektive: Welchen Zugang kann ich zu mir selbst und zur Welt entwickeln, welchen Teil von mir selbst und Bild von Welt realisieren?
Deshalb ist das Da-Sein des Anderen, einer spezifischen Sinnesgegebenheit wie ein tropfender Wasserhahn oder das freie Spiel mit einem Medium Wasser in Form einer großen Pfütze, die ästhetischen Erfahrungsprozesse, die sich auf deren Grundlage entwickeln können, so relevant: Durch diese kann Welt und die eigene Person in je ganz eigener Art und Weise erfahren werden.
Die Art und Weise der Selbst- und Welterfahrung ist dabei umso vielfältiger und offenerer, je vielfältigere Handlungsformen zugelassen, unterstützt und angeregt werden. Denn erst in und durch die Handlung wird das anfängliche Phänomen im Interesse der ästhetischen Erfahrung, über gestalterisches vielfältig-diverses Handeln in seiner Vieldeutigkeit, Fülle und Tiefe wahrnehmbar.
Konkret, in Bezug auf das Beispiel des tropfenden Wasserhahns, wird das Phänomen des Tropfens erst durch und in dem Spiel mit ihm in seiner Vieldeutigkeit und Bedeutung deutlich. Denn erst in den vielfältigen Möglichkeiten der Interaktion, dem diversen Handeln mit und zu dem Phänomen, tritt die Vielfalt und Differenzierung des Phänomens in Erscheinung. Insofern ist das Phänomen etwas, was aufgrund des Interesses des Kindes und der Kinder, im Interesse, im Zwischenraum von Kind und Ding, entsteht. Die lateinischen beiden Wortstämme, ›inter‹ (zwischen) und ›esse‹ (sein), bringen dieses Im-Dazwischen-Sein sehr deutlich zum Ausdruck. Das Phänomen ist ein Drittes! Und darum geht es im spielerischen Handeln aus einer elementar-ästhetischen Bildungsperspektive: Das vielfältige Spiel mit den Dingen, Medien und Gegenständen ist so relevant, da in der Entfaltung des Phänomens, in der spielerisch-gestalterischen Deutung der Welt die symbolische Bedeutung der Dinge entsteht (Nießeler, 2012). Diese erfahrene Bedeutung, die sich im abstrahierenden Begriff für die Dinge versammeln, ist umso tiefer und vielfältiger, desto reicher und differenzierter das spielerische Handeln mit ihnen ist und sein konnte. Wichtig ist aber an dieser Stelle zu konstatieren, dass sinnliche Erfahrungen nicht identisch mit dem Begriff sind, nicht in ihm aufgehen und ihn dadurch immer und auch immer wieder überschreiten.
3.2.3 Professionelle Haltung für ästhetische Erfahrungsräume
Als Fazit der letzten beiden Unterkapitel, in denen es um die Bedeutung der Anderen und des Anderen ging, werden im Folgenden Grundlinien einer professionellen Haltung für die Ermöglichung ästhetischer Erfahrungsräume entwickelt.
Es ist das pädagogische Team mit seiner Leitung, letztendlich auch die grundsätzliche Ausrichtung eines Trägers von Kindertagesstätten, die dafür verantwortlich sind, welche sinnlichen Gegebenheiten Kindern in einer Kita überhaupt zur Verfügung stehen, wie die Räume gestaltet sind und wie der Tagesablauf strukturiert ist. Dies alles ist auf einer elementaren Ebene dafür verantwortlich, welche und wie Kinder potentiell ästhetische Erfahrungen überhaupt machen können. Genauso entscheidend ist dann in Folge, wie Kindern zugestanden wird, sich in und zu Phänomenen gestalterisch spielend-handelnd zu verhalten, gerade wenn diese aufgrund ästhetischer Erfahrungen entstehen, in denen kein klassisches Spielmaterial beteiligt ist. Es geht dabei um die Frage, wie eng oder weit die Normen sind, die zunächst die Auswahl und die Gestaltung des Wahrnehmung- und Handlungsraumes Kita gestaltet haben? Diese fließen auch indirekt oder direkt in die Akzeptanz und Toleranz, das Verbot oder in die Ermutigung und Unterstützung von ästhetischen Handlungs-, das heißt Wahrnehmungsweisen von Welt ein.
Entscheidend ist deshalb, ob überhaupt über diese Normen reflektiert wird, anhand welcher Kriterien diese diskutiert werden und wie dann entsprechend eine Kita in ihrer Dinglichkeit und Materialität, Umgang mit Zeit und Raum für die in ihr gewünschten Gestaltungsprozesse eingerichtet und strukturiert wird. Aus einer ästhetisch-bildungstheoretischen Perspektive sind dies wesentliche Aspekte der professionellen Haltung von Pädagog*innen. Denn auf eine Kurzformel gebracht ist diese professionelle Haltung entscheidend dafür, was überhaupt an potentiellem Handlungs- und Wahrnehmungskontext (u. a. Raum, Materialien, Dingen, Sachen, Zeiträumen, Speisen) da ist und welche ästhetischen Erfahrungen und Gestaltungsprozesse in Bezug auf die Welt und sich Selbst realisiert werden können oder auch sollen.
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