1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Wenn uns der Ärger im Griff hat, scheint unser Bewusstsein an der wahrgenommenen Gefahr oder Bedrohung zu kleben. Wir nehmen die Situation auseinander, analysieren alle ihre Aspekte. Wir grübeln, denken immer wieder darüber nach. Wir dramatisieren, sodass die einzigen Aspekte der Person oder der Situation, die für uns existieren, diejenigen sind, die uns ärgerlich oder wütend machen. Wir haben vielleicht das Gefühl, als existierte die andere Person aus dem einzigen Grund, uns sauer zu machen, oder als wäre der Job (oder die Beziehung, das ganze Leben) ausschließlich Mist. In vielen Fällen hat die Aggression mit Gedanken und Gefühlen zu tun, man würde nicht gemocht, man wäre isoliert, würde benutzt und von anderen nicht wertgeschätzt. Wie Sie sehen werden, hilft der Ansatz mit Mitgefühl bei der Arbeit mit Ärger und Wut, dem entgegenzuwirken, indem wir uns mit anderen verbunden und in Beziehung, wertgeschätzt und unterstützt fühlen. All diese Gefühle können den Ärger reduzieren.
Argumentieren
Wenn man sich in einem aggressiven Zustand befindet, wirkt sich das nicht nur auf den Inhalt unserer Gedanken aus, es beeinflusst auch die Weise, wie wir in unserer Umgebung argumentieren und Informationen interpretieren. Unsere Aufmerksamkeit ist schon auf die eher bedrohlichen Aspekte unserer Umwelt eingestellt – und was meinen Sie, was wir mit diesen Dingen tun, wenn wir sie einmal wahrnehmen? Wenn wir aggressiv sind, tun wir das, was wir auch sonst tun, wir bewerten, was passiert ist, und versuchen, Vorwürfe oder Zuschreibungen in Bezug auf das zu formulieren, was wir entdecken: „Wer hat das getan? Warum haben sie es getan? Was ist hier los? Wie sollte ich reagieren?“
Die Antworten, die wir finden, sind oft stark von unserem Ärger beeinflusst. Wie wir am Beispiel mit der Aggressivität im Straßenverkehr gesehen haben, formt sie das, was wir von anderen denken – und wenn wir uns bedroht fühlen, macht Ärger es persönlich. Wenn uns Ärger im Griff hat, neigen wir dazu, andere zu dämonisieren und sie für unsere unangenehmen Gefühle verantwortlich zu machen. Wir bewerten ihre Handlungen streng oder verurteilen sie und unterstellen ihnen die übelsten Motivationen: Sie versuchen bewusst, uns zu schaden oder Unannehmlichkeiten zu bereiten. Wir fühlen uns von anderen getrennt und isoliert. In diesen Situationen kann die Art und Weise, wie wir die Situation und den Anteil der anderen daran einschätzen, sowohl defensiv als auch aggressiv sein. Diese Person bewegt sich im Gang des Supermarkts nicht nur langsam, sie versucht bewusst, in voller Absicht, mir Unannehmlichkeiten zu bereiten und mir den Tag zu verderben. Die Bemerkung des Kollegen während der Besprechung war keine konstruktive Kritik, sie war ein Angriff auf mich. Ich will damit sagen, dass wir nicht nur dazu neigen, negative Meinungen über die anderen Menschen in der Situation und über ihre Motive zu bilden, wenn wir ärgerlich oder wütend sind, sondern dabei oft einem Irrtum unterliegen. Wir richten sogar strenge und harte Kritik gegen uns selbst: „Ich kann nicht fassen, dass ich das gemacht habe! Ich bin so blöde! Ich mache auch alles falsch!“
Andere Probleme entstehen, wenn wir in einem aggressiven Zustand argumentieren. Die Forschung hat gezeigt, dass Aggression, verglichen mit anderen Emotionen im Zusammenhang mit Bedrohung wie Traurigkeit oder Angst, mit einem Gefühl der Gewissheit oder Sicherheit verknüpft ist (9). Wenn man aggressiv oder ärgerlich ist, neigt man dazu, sich seines Denkens sehr sicher zu sein, auch wenn es mit dem, was uns aggressiv oder ärgerlich gemacht hat, nichts zu tun hat oder einfach falsch ist. Letzteres ist ziemlich wahrscheinlich, denn die Forschung zeigt auch, dass die Sicherheit, die die Aggressivität vermittelt, damit zusammenhängt, dass Informationen eher oberflächlich verarbeitet werden (10) – man denkt weniger genau, wenn man wertet oder urteilt und verlässt sich mehr auf Klischees (11).
Unter diesen Bedingungen kann es sehr leicht passieren, dass man schlechte Entscheidungen trifft, die Beziehungen beschädigen und unser Leben schwieriger machen können … die Entscheidung zum Beispiel, einen Partner zu beschimpfen oder einen Kollegen bloßzustellen. Nehmen Sie sich eine Minute Zeit und überlegen Sie, ob Ihnen Entscheidungen einfallen, die wirklich schrecklich waren (oder solche, die Sie bereuen), die Sie unter dem Einfluss von starkem Ärger oder Wut getroffen haben. Ich bin sicher, dass Ihnen welche einfallen. Wenn das nicht der Fall ist, haben Sie entweder ein sehr schlechtes Gedächtnis oder ein besonderes Geschick bei der Regulierung von Emotionen. Geschicklichkeit kann hier die Fähigkeit verleihen, darauf zu verzichten, wichtige Entscheidungen zu treffen oder sie aufzuschieben, wenn man merkt, dass man unter dem Einfluss starker Emotionen steht.
Übung 1.3: Von Ärger oder Wut beeinflusstes Denken
Schauen Sie sich Ihr Denken und Ihren Argumentationsstil an, die Sie von sich kennen, wenn Sie ärgerlich oder wütend sind.
• Worauf richten sich Ihre Gedanken? Woran denken Sie?
• Kommen Ihnen irgendwelche Erinnerungen, wenn Sie sich ärgern oder wütend sind? Wenn ja, was für Erinnerungen?
• Überlegen Sie, was mit Ihrem Denken passiert, wenn Sie wütend sind. Fangen Sie an zu grübeln? Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Gedanken sehr schnell kommen? Sind sie leicht oder schwer zu kontrollieren?
• Überlegen Sie, wie Ihre Gedanken Ihre Aggression beeinflussen. Verstärken sie sie oder beruhigen sie sie?
Aggression in Gedanken durchspielen: Bilder und Fantasien
Unser Gehirn besitzt eine erstaunliche Fähigkeit, zu imaginieren und zu fantasieren – sich etwas im Geist bildlich vorstellen zu können, als eine Szene, die man wie einen Film vor dem inneren Auge abspielt. Diese Fähigkeit ist jedoch von Mensch zu Mensch verschieden ausgeprägt. Manche Menschen, wie etwa meine Frau Lisa, können visuelle oder mentale Bilder nach Belieben entstehen lassen. Als wir zusammen die Schule besuchten, erzählte sie mir, sie könnte im Geist die Seiten ihrer Notizen durchsehen, wenn ihr bei einer Prüfung die Antwort nicht gleich einfiel. Ich bin mehr auditorisch veranlagt. Daher ist mein visuelles Vorstellungsvermögen nicht so gut wie ihres, aber ich kann fast alle bekannteren Songs von den 70er Jahren an bis in die 90er nennen und mir selbst vorspielen, so als wäre mein Gedächtnis eine Jukebox. Man kann Imagination benutzen, um fast alles zu üben, von Fähigkeiten der Selbstbehauptung bis zu Tonleitern auf der Gitarre – es funktioniert!
Der Grund, weshalb es funktioniert, ist, dass man viele derselben Zellen im Gehirn (die Neuronen) aufleuchten lassen kann, die aktiviert werden, wenn man wirklich in der Situation ist. Teile des Gehirns wie die emotionalen Zentren (auch das für Aggression zuständige) reagieren stark auf Bilder und Fantasien, und der Inhalt der Imaginationen wird seinerseits von unserer Stimmung geformt. Dies ist eine sehr gute Sache, wenn man an eine positive Erfahrung zurückdenkt oder sie genießt, aber es hat keine so gute Wirkung, wenn unser Bedrohungssystem die Oberhand hat und anfängt, Imagination und Fantasien zu bestimmen. Wie beim Grübeln neigen wir dazu, uns die Situation immer wieder vorzustellen, die uns geärgert oder wütend gemacht hat. Man kann Variationen dieser Situation visualisieren oder sich alle möglichen Formen ausmalen, wie man Ärger oder Wut hätte ausdrücken können oder wie man es jemandem in Zukunft „heimzahlen“ würde. Die Fantasien und Bilder dienen dazu, unseren Ärger oder die Wut am Kochen zu halten. Es ist ein Teufelskreis: Wenn man wütend ist, neigt man dazu, aggressive Fantasien und Bilder zu erleben; diese aggressiven Bilder und Fantasien schüren dann unsere emotionale Reaktion und lassen uns wütend bleiben. So funktionieren einfach unser Gehirn und unser Körper – sie können nicht zwischen der äußeren Welt und der Welt, die wir in uns erzeugen, unterscheiden.
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