Viele Menschen sind sich dessen schmerzhaft bewusst, wenigstens gelegentlich. Wer von uns würde nicht etwas an sich ändern wollen, wenn er die Wahl hätte? Ich bin zum Beispiel mit meiner Körpergröße und meiner Sehkraft ziemlich zufrieden, aber ich hätte nichts gegen ein markantes Kinn, und meine eher dürftigen Fähigkeiten am PC und beim Gitarrespielen würden von einem Austausch meiner kurzen Wurstfinger gegen lange schmale sehr profitieren.
Es gibt Dinge an unserem Gehirn, die wir vielleicht auch gern ändern würden, wenn wir könnten. Auf der einen Seite gibt es wunderbare komplexe Systeme, die in der Lage sind, wahrhaft erstaunliche Dinge zu tun: Sie ermöglichen uns, uns zu erinnern, zu lernen, zu planen und differenziert mit den Nuancen komplizierter sozialer Beziehungen umzugehen. Sie ermöglichen uns auch, Optionen und Konsequenzen abzuwägen, wie zum Beispiel, ob wir Kaffee zum Nachtisch nehmen, um länger munter zu bleiben. Andererseits ist das menschliche Gehirn aber auch ein evolutionärer Flickenteppich – ein Gebilde, das ein komplexes und vielfältiges System von Strukturen und Funktionen enthält, von denen einige fast aus den Anfängen des Lebens selbst stammen. Unser Gehirn hat sich mit starken Emotionen entwickelt, die sich Gedanken und Aufmerksamkeit zunutze machen, oft ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Ferner scheinen diese Emotionen oft besser zu früheren Zeiten der menschlichen Geschichte zu passen – wenn sie uns darauf vorbereiten, zu kämpfen, zu fliehen oder in Unterwerfung zu Boden zu gehen, statt innezuhalten, um achtsamer zu werden oder zu analysieren, zu überlegen und abzuwägen. Während uns unser Gehirn also oft gute Dienste leistet, funktioniert es auch auf eine Weise, die wir wahrscheinlich nicht gewählt oder so geplant hätten und wahrscheinlich gern verändern würden, wenn wir die Wahl hätten.
Wir können uns also weder unsere Lebensumstände selbst wählen, in die wir hineingeboren werden, noch können wir uns aussuchen, wie wir aussehen oder wie unser Gehirn funktioniert. Unsere frühe Umwelt spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie wir mit der Welt interagieren werden, und sie formt weitgehend unsere Fähigkeiten, mit schwierigen Emotionen wie Ärger oder Wut umzugehen. Wir kommen alle mit einem Gehirn auf die Welt, das Systeme enthält, die sozusagen schon konfiguriert und bereit sind, davon aktiviert zu werden, wie das Leben uns behandelt – bestimmte Erfahrungen in unserem Leben können buchstäblich bestimmte Gene „einschalten“ oder modifizieren, wie unser Gehirn funktioniert. Dies ist ein Grund, weshalb frühe Bindungen so wichtig sind. Wir werden im 3. Kapitel darauf zurückkommen. Wenn ich mit meinen Kollegen darüber spreche, wie uns die Situationen, in die wir hineingeboren wurden, geprägt haben, höre ich oft Sätze wie: „Wenn ich in ein Drogenkartell hineingeboren worden wäre, wäre ich jetzt wahrscheinlich ein Drogendealer oder vielleicht im Gefängnis oder tot oder selbst ein Mörder.“ Es ist leicht, die Welt in „gute und schlechte Menschen“ zu teilen, aber diese Unterscheidungen werden der Wirklichkeit nicht gerecht. Untersucht man die Lebensgeschichten von Menschen genauer, dann sind solche Etikettierungen kaum haltbar. Viele wurden in Umgebungen hineingeboren, die von Gewalt, Feindseligkeit, Missbrauch oder Vernachlässigung bestimmt waren. Ihre Persönlichkeit und ihr Gehirn wurden derart geprägt, dass große Schwierigkeiten in ihrem Leben vorgezeichnet waren.
Betrachten wir das Ganze mit Mitgefühl, dann erkennen wir, dass wir möglicherweise ebenso gehandelt und so geworden wären, wenn wir in diese Umstände geraten wären. Wie würden uns vielleicht so ähnlich wie sie verhalten, im Guten wie im Schlechten. Es ist leicht, andere und auch uns selbst, zu verurteilen, aber oft sehen oder würdigen wir nicht die Charakterstärke, die möglicherweise noch viel Schlimmeres verhindert hat. Wäre ich in eine so problematische Umgebung hineingeboren worden, wäre es ziemlich wahrscheinlich, dass ich so – der Psychologieprofessor, der dieses Buch schreibt – nicht existieren würde. Diese Überlegungen sind wichtig, um zu erkennen, dass wir uns nicht ausgesucht haben, wie unser Gehirn funktioniert oder wie es von unserem Leben geformt und konditioniert wurde. Diese Einsicht wird uns helfen, die Herausforderungen unseres Lebens zu erkennen und Verantwortung dafür zu übernehmen und vor allem zu lernen, unseren Geist auf eine mitfühlende Weise auszubilden und uns an unserem eigenen Wohlbefinden und dem der anderen zu orientieren. Dies können wir tun, auch wenn es nicht unser Fehler ist, dass wir dieses empfindliche und problematische Gehirn haben. Und ebenso können wir mehr Verständnis und Empathie für diejenigen aufbringen, die in schwierigeren Lebensumständen aufgewachsen sind und leben.
Altes Gehirn und neues Gehirn
Wenn wir das menschliche Gehirn studieren, sehen wir, dass wir viele grundlegende Triebe und Motivationen mit Organismen – wie Reptilien – gemeinsam haben, die lange vor uns in der Kette der Evolution aufgetaucht sind (1). Das Leben von Reptilien ist nicht annähernd so kompliziert wie Ihres oder meins. Sie sind im Allgemeinen nur an vier Dingen interessiert: Kämpfen, Fliehen, Fressen und Sex bzw. Fortpflanzung. Wahrscheinlich denken Sie, dass einige dieser Dinge auch Ihnen gelegentlich in den Sinn kommen. Aus der Perspektive der Evolution sind die Gehirne neuer Arten, die im Strom des Lebens auftauchen, nicht vollkommen neu; vielmehr besitzen sie neue Fähigkeiten, die sie einzigartig machen, und zugleich viele Strukturen und Eigenschaften, die in früheren Formen des Lebens schon da waren. Vereinfacht könnte man sagen, dass wir alle ein „altes Gehirn“ haben, das immer noch auf die vier genannten Dinge hin orientiert und für unsere grundlegenden Begierden und Emotionen verantwortlich ist. Dieses „alte Gehirn“ ist mit einem „neuen Gehirn“ verknüpft, der Teil, der uns auf eine einzigartige Weise menschlich macht – das heißt fähig zu fantasiebegabtem und kreativem Denken, zu Imagination, Grübeln, Planen und so weiter.
Aus Sicht der CFT ist es wichtig, zu sehen, dass die Verknüpfung zwischen altem Gehirn und neuem Gehirn sehr problematische Folgen hat. Denken Sie an die vielen starken Leidenschaften, die Sie in Ihrem Leben erlebt haben. Sie haben erfahren, wie es ist, sich zu verlieben, eine Beziehung mit den Kindern zu pflegen, Freundschaften und Partnerschaften aufzubauen, eine gute sexuelle Beziehung zu haben, danach zu streben, angenommen zu werden und Ablehnung zu vermeiden. Sie wissen, wie es ist, in Wut zu geraten und Konflikte zu haben, Angst zu bekommen, wenn eine Gefahr droht, und Freude zu empfinden, wenn für Sie alles gut läuft … Wir können diese Verhaltensweisen und Erfahrungen auch bei vielen Tierarten beobachten: Sie können sie bei Haustieren wie Katzen und Hunden und bei den Schimpansen im Zoo live miterleben. So funktioniert das Leben – diese Triebe, Motivationen und Emotionen sind wesentliche Bestandteile unserer psychischen Ausstattung. Und in den meisten Filmen geht es genau darum: Liebe, Sex, Gewalt, Opfer, Verrat und so weiter. Dies sind die Themen, die unser Leben bestimmen.
Unser „altes Gehirn“ steuert diese grundlegenden Prozesse und Emotionen, die uns helfen zu überleben und uns fortzupflanzen. Strukturen des alten Gehirns sorgen dafür, dass unser Herz schlägt und die Lungen funktionieren, und regulieren die Zyklen unseres Schlafes, der Nahrungsaufnahme und der Fortpflanzung. Andere Strukturen des alten Gehirns helfen uns, so mit der Umwelt zu interagieren, dass wir überleben und unsere Gene weitergeben können. Sie motivieren uns, uns die Dinge zu verschaffen, die wir brauchen, und sind dafür verantwortlich, vom passenden Partner angezogen zu sein, für Nachwuchs zu sorgen und emotional zu reagieren, wenn uns etwas bedroht und in Lebensgefahr bringt.
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