Wie das Bedrohungssystem organisiert das Antriebssystem also unser Denken: Es motiviert uns und richtet unsere Aufmerksamkeit auf den begehrten Gegenstand. Es aktiviert und energetisiert uns und lässt unsere Gedanken immer wieder zum begehrten Gegenstand zurückkommen. Denken Sie daran, wie Sie sich bei einem Wettbewerb verhalten oder wie sich ein Athlet oder ein Schachspieler verhält und sich während eines Wettkampfs oder Turniers konzentriert. Oder denken Sie an den „Kaufrausch“ vieler Menschen. Oder als Sie sich das erste Mal verliebt haben: Wie oft waren Sie mit Ihren Gedanken bei diesem geliebten Menschen? Und wenn wir unser Ziel erreicht haben, den Wettkampf gewonnen oder die Anerkennung errungen haben, dann sind wir begeistert und aufgeregt und erleben einen Rausch von Lust oder Freude.
Diagramm 2.3: Wie das Trieb-und-Ressourcen-Erwerbssystem Bewusstsein und Denken organisiert
Wie das Bedrohungssystem erfüllt das Antriebssystem seine Aufgabe mittels verschiedener chemischer Substanzen im Gehirn. Eine dieser Substanzen ist der Neurotransmitter Dopamin (der wichtigste Botenstoff im Gehirn), der mit Erfahrungen und Empfindungen von Lust, Bewegung und Energie verbunden ist. Man erlebt einen Dopaminschub, wenn man verliebt ist, Sex hat, mit Bravour eine Aufnahmeprüfung besteht oder für seine Arbeit ausgezeichnet wird. Die Emotionen, die von Dopamin hervorgerufen werden, haben eine starke Fähigkeit, die Triebe zu mobilisieren. Stellen Sie sich vor, Sie gewinnen im Lotto und sind plötzlich im Besitz von 20 Millionen Euro. Wenn Sie von dem Gewinn erfahren, erleben Sie wahrscheinlich einen Dopaminrausch im Gehirn und einen Schub von Energie, der es schwer macht, ruhig zu schlafen, und der Ihre Gedanken rasen lässt. Kokain oder Amphetamine stimulieren im Grunde ein ähnliches Gefühl – man verschafft sich einen Schub von Energie, Schwung und Erregung. Nur hat der Drogenkonsum natürlich böse Folgen und kann letztlich in hohem Maße süchtig machen.
Übung 2.2: Das Trieb-und-Ressourcen-Erwerbssystem
Versuchen Sie, sich an eine Situation zu erinnern, in der Ihr Antriebssystem die Kontrolle hatte – als Sie etwas Bestimmtes mit wirklicher Begeisterung getan haben, zum Beispiel, um ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, oder als Ihnen gerade etwas sehr Bedeutendes gelungen war.
• Welche Emotionen haben Sie erlebt? Wie haben Sie sich gefühlt? Was haben Sie körperlich wahrgenommen?
• Erinnern Sie sich an Ihre Aufmerksamkeit. Worauf war sie gerichtet? Wo war Ihr Fokus?
• Woran haben Sie gedacht? Was hatten Ihre Gedanken mit Ihrer emotionalen Erfahrung zu tun?
• Was für Bilder oder Fantasien gingen Ihnen durch den Kopf?
• Wozu waren Sie motiviert? Was wollten Sie tun?
• Wie haben Sie sich verhalten?
So wie das Bedrohungssystem unser Denken um wahrgenommene Gefahren und Bedrohungen organisiert, so richtet unser Antriebssystem unsere Emotionen, Aufmerksamkeit, Gedanken, Fantasien, Motivationen und unser Verhalten auf unsere vielfältigen Ziele im Leben. Es gibt auch Interaktionen zwischen dem Antriebssystem und dem Bedrohungssystem: Wenn wir „auf der Jagd“ nach etwas sind und uns jemand in die Quere kommt oder uns etwas daran hindert, es zu bekommen. Wenn das passiert, werden unser Antriebssystem und das Bedrohungssystem gleichzeitig aktiviert. Konkurrenten, die nach dem gleichen Ziel streben wie wir, können als Bedrohung empfunden werden. Denken Sie an das Gedränge und Gerangel in vielen Geschäften kurz vor Weihnachten. Manchmal kann das auch zu gefährlich aggressivem Verhalten führen, wie im Jahr 2008, als ein Aushilfsverkäufer in einem Supermarkt in New York von Kunden zu Tode getrampelt wurde, die wie besessen drängelten, um in das Geschäft zu kommen (5). Auch in unserer Sprache spiegelt sich die Wechselwirkung von Bedrohungs- und Antriebssystem: „Man muss darum kämpfen, wenn man etwas haben will!“
Wenn wir also daran gehindert werden, das zu bekommen, was wir haben wollen, werden unsere Triebe blockiert, wir sind frustriert und werden ärgerlich und wütend. Ärger und Wut sind also eng mit dem Antriebssystem verknüpft. Auch wenn Traurigkeit oder Angst entstehen können, sind Ärger und Wut die häufigere Reaktion des Bedrohungssystems auf solche Hindernisse. Dies ist auch sinnvoll, wenn man bedenkt, dass Aggression eine Emotion ist, die ermutigt, auf etwas zuzugehen, sich vorwärts zu bewegen und Hindernisse und potentielle Bedrohungen des eigenen Glücks zu beseitigen.
In der buddhistischen Psychologie werden Ergreifen und Anhaften als Ursachen des menschlichen Leidens gesehen. Wir erleben viele negative Emotionen, wenn wir etwas wirklich haben wollen, es aber nicht bekommen, oder wenn wir etwas verlieren und nicht loslassen können. Bei Problemen und Schwierigkeiten wird in der CFT oft die Frage gestellt: „Was für eine Gefahr oder Bedrohung löst diese Emotion aus?“ Wie wir gesehen haben, haben die Bedrohungen, die Wut auslösen, häufig damit zu tun, dass uns etwas verweigert wird, dass uns jemand daran hindert, etwas zu bekommen, dass uns etwas genommen wird oder dass wir die Kontrolle über etwas verlieren.
Im Fall von Wut, die auf Scham zurückgeht, erleben wir eine Bedrohung des Selbstbildes, des Gefühls persönlicher Identität oder des Bildes, das andere von uns haben sollen. Zusammengefasst haben Ärger und Wut also oft damit zu tun, dass die Dinge „nicht so sind, wie wir sie haben wollen“, dass unsere Gewohnheit, die Dinge so zu sehen, wie wir sie gerne sehen, infrage gestellt wird.
Wenn Sie sich vor Augen halten, wie wir alle nach Dingen streben, die wir haben wollen, und mit einem Gehirn ausgestattet sind, das Frustration, Ärger und Wut entstehen lässt, wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir das gerne hätten … nun, dann ist wohl leicht einzusehen, wie Konflikte entstehen können. Eine mitfühlende Sicht ermöglicht uns, zurückzutreten, zu beobachten und diesen Prozess zu verstehen. Dann können wir ihn vielleicht kontrollieren und vermeiden, dass um kleine Dinge große Konflikte entstehen. Wir können aus dem Teufelskreis von Ärger und Wut heraustreten, wenn wir uns klar machen, dass alle glücklich sein wollen, dass niemand leiden möchte und dass all das Begehren und Festhalten, das Kämpfen und die aggressiven Verhaltensweisen einfach nur dadurch entstehen, dass das „alte Gehirn“ und das „neue Gehirn“ in ihrem Bemühen für unser Überleben und für ein gutes Leben in Konflikt geraten. Wenn wir dies verstehen, haben wir die Wahl: Wollen wir einfach so weitermachen? Oder möchten wir eher unser Wissen über unser Gehirn nutzen, um Möglichkeiten zu finden, wie wir unsere Systeme zur Regulierung von Emotionen in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander bringen können, sodass wir bessere Beziehungen aufbauen und besser leben können? Wenn Sie diese zweite Option anspricht, lesen Sie weiter – denn wir müssen noch ein weiteres System zur Regulierung unserer Emotionen kennenlernen.
Das Beruhigungs- und Zufriedenheitssystem
Zum Glück haben wir ein System, das helfen kann, das Bedrohungs- und das Antriebssystem zu beruhigen. Wir nennen dieses dritte System das „Beruhigungssystem“, und wir werden jetzt die Gefühle, die dieses System vermittelt, die Arten von Verhalten, mit denen es verknüpft ist, und die Systeme des Hirnstamms und die chemischen Substanzen betrachten, die daran beteiligt sind.
Mit ein paar Ausnahmen (zum Beispiel Traurigkeit) tendieren das Bedrohungs- und das Antriebssystem dazu, Denken und Bewusstsein auf eine aktive und fokussierte Weise zu organisieren, zu der auch das starke Verlangen gehört, entweder mit einer Bedrohung oder Gefahr umzugehen oder ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Im Vergleich mit diesen beiden anderen Systemen, bewirkt das Beruhigungssystem, dass wir gelassen und ruhig werden; deshalb auch die Bezeichnung „Zufriedenheitssystem“. Es ist mit emotionalen Erfahrungen wie Zufriedenheit, Frieden, Heiterkeit und mit dem Gefühl verbunden, dass man sicher und mit anderen verbunden ist. Während am Bedrohungs- und dem Antriebssystem Motivation und Streben beteiligt sind, und es bei ihnen zum großen Teil darum geht, den gegenwärtigen Stand der Dinge zu verändern, geht es beim Beruhigungssystem darum, geerdet und sicher im gegenwärtigen Moment zu sein. Statt der Dringlichkeit, die das Bedrohungs- und das Antriebssystem kennzeichnen, lässt uns das Beruhigungssystem langsam, ruhig und gelassen werden – ohne allerdings gelangweilt zu sein. Neben dem „Schütze dich!“ des Bedrohungssystems und dem „Los, hol es dir!“ des Antriebssystems ist die zentrale Botschaft des Beruhigungssystems: „Es ist alles gut. Du bist sicher.“
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