1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Während Sie dies lesen, merken Sie vielleicht, dass Sie sich ein wenig verkrampfen, wenn Sie daran denken, wie Sie selbst andere auf diese Weise verletzt haben und wie Sie selbst verletzt wurden. Mir geht es jedenfalls so. Achten Sie genau auf den Schmerz, den sie empfinden, wenn Sie sich solchen Erinnerungen öffnen, denn dieses Gefühl kann uns helfen, Sympathie zu empfinden und die mitfühlende Entschlossenheit zu nähren, andere besser zu behandeln. Denn wir wissen, wie sich dieser Schmerz anfühlt.
Allzu oft verleugnen wir diesen Schmerz und die Verletzlichkeit, die damit verbunden ist, wenn wir Ärger oder Wut offen ausdrücken. Aber man sollte sich nichts vormachen: Man lässt sich auf eine Vermeidungsstrategie ein, die es nur vorübergehend ermöglicht, schwierigen Gefühlen zu entgehen. Es ist lediglich eine kurzfristige Betäubung unseres Schmerzes, die zudem einen hohen Preis hat. Man fühlt sich dann vielleicht weniger verletzlich, aber wenn man offene Aggression als Möglichkeit benutzt, anderen Emotionen auszuweichen, schafft man sich mehr Probleme, mit denen man dann später konfrontiert ist. Mitgefühl verlangt von uns, stark zu sein, und hilft uns, unseren Schmerz als eine Möglichkeit zu nutzen, andere besser zu verstehen und uns in sie hineinzuversetzen.
Es kann sehr hart sein, wenn wir uns bewusst werden, wie wir mit offener Aggression Beziehungen beschädigt haben. Viele der Klienten, mit denen ich gearbeitet habe, haben eingestanden, dass sie sich denen gegenüber, die ihnen am nächsten standen, am schlimmsten verhalten haben. Das waren die, die sie so sehr liebten, dass sie sogar angesichts einer so schlimmen Behandlung da geblieben waren, oder die nicht die Möglichkeit hatten, zu gehen. Diese Einsicht ist verbreitet, und sie ist einer der Gründe dafür, weshalb Menschen den Entschluss fassen, mit ihrer Wut konstruktiver umzugehen.
Übung 1.6: Aggression und Verhalten
Überlegen Sie, wie Sie sich verhalten haben, wenn Sie aggressiv waren. Was haben Sie dann getan?
• Wie haben Sie gehandelt?
• Entsprachen diese Handlungen Ihrem Bild von dem Menschen, der Sie sein möchten?
• Wenn Sie Kinder haben: Entsprechen diese Handlungen dem Ideal eines Menschen, an dem Sie die Erziehung Ihrer Kinder orientieren?
Schauen Sie sich die Folgen an, die Ihr aggressives Verhalten auf Ihr Leben gehabt hat.
• Wie haben sich Ihre aggressiven Handlungen auf Ihr Leben ausgewirkt?
• Welche Wirkungen haben Ihre aggressiven Handlungen auf Ihre Beziehungen gehabt?
Wenn wir denen, die uns am Herzen liegen, wehtun und die Dinge häufig schlimmer und nicht besser machen, dann sollte uns das schon schmerzen. Und wie wir dann darauf reagieren, ist von entscheidender Bedeutung. Wenden wir uns gegen uns selbst und bezeichnen uns als schlechte Menschen, dann verschlimmern wir alles nur und schaffen die Bedingungen für eine Fortsetzung unseres destruktiven Verhaltens. Wichtig ist, sich für eine Veränderung zu entscheiden und dabei Schuldgefühle und Bedauern für unsere Motivation zu nutzen, auf eine positive Weise mit unserer Wut zu arbeiten. Dann können wir wirklich die nötigen Schritte unternehmen, um bessere Eltern, Ehepartner und Kolleg(inn)en zu werden. Genau so einen Schritt tun Sie in diesem Moment.
Glücklicherweise gibt es viele positive Möglichkeiten, auf schwierige, Wut auslösende Situationen zu reagieren. Man kann lernen, das Aufsteigen von Wut frühzeitig zu erkennen und direkt damit zu arbeiten, indem man den Körper beruhigt und seine Gedanken genau beobachtet. Man kann selbstbewusst und direkt mit denen sprechen, die an der Situation beteiligt sind, und ihnen und sich selbst mit gleichem Respekt begegnen. Man kann die jeweilige Situation als ein Muster betrachten, das sich im Laufe des Lebens immer wieder zeigen wird, und sich selbst und anderen Mitgefühl entgegenbringen. Wir sind Menschen und wollen alle ein glückliches Leben, und es gibt viele Hilfsmittel und Traditionen, die uns dabei unterstützen können. Die Tatsache, dass Sie dieses Buch lesen, zeigt mir, dass dies der Weg ist, den Sie gewählt haben, und ich werde mein Bestes tun, Ihnen auf diesem Weg zu helfen. Ihre Familie, Ihr Leben und Ihre Zukunft sind diese Mühe und Anstrengung wert.
Zusammenfassung
In diesem Kapitel haben wir die verschiedenen Formen von Aggression beschrieben und gezeigt, wie stark Aggression unser Denken und Bewusstsein organisiert, wenn unser Gehirn, wie es sich in der Evolution entwickelt hat, reagiert, um uns vor Gefahren zu schützen. Es ist wichtig, zu erkennen, dass dieser Prozess – die Tatsache, dass wir Aggression erleben – nicht etwas ist, was wir zu verantworten haben und uns vorwerfen müssten. Trotzdem müssen wir natürlich Verantwortung dafür übernehmen, damit Ärger und Wut nicht weiterhin uns selbst und anderen schaden. Wir können uns selbst dabei unterstützen, indem wir mit unserem Bedrohungssystem vertrauter werden und damit, wie es in Reaktion auf Ärger und Wut funktioniert, und indem wir lernen, mit dieser mächtigen Emotion zu arbeiten. Damit werden wir uns im Folgenden beschäftigen.
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Der Compassionate Mind Approach kann helfen, Ärger und Wut zu verstehen |
Bei der Compassion Focused Therapy (CFT) erkennen wir an, dass Wut eine Emotion ist, die sich als Überlebenshilfe entwickelt hat – sie warnt uns vor bestimmten Dingen und macht uns bereit zur Verteidigung, wenn wir in Gefahr sind. Wir haben aber auch gesehen, dass unkontrollierte Aggression reale Probleme in unserem Leben und in unseren Beziehungen zur Folge hat. Wir können unsere Aggression nicht loswerden, so wenig, wie wir unsere Nase loswerden können (unsere Nase loszuwerden wäre sogar viel leichter, wenn auch ein wenig schmerzhafter). Wir können aber lernen, unsere Aggression, unsere Wut zu verstehen – warum das Gehirn es so leicht macht, sie zu empfinden, wie sie sich in unserem Körper anfühlen und wie sie Kontrolle über unsere Gedanken und über unser Verhalten übernehmen können. Wir können etwas über die Dinge lernen, die sie auslösen, und dann an den Reaktionen auf diese Auslöser arbeiten. In diesem Buch befassen wir uns vor allem damit, wie wir Identifikationen mit Ärger und Wut lösen und mit Mitgefühl an unsere Aufgabe herangehen können. Wir haben nicht immer die Wahl, ob wir Ärger oder Wut empfinden, aber wir können bestimmen, was wir mit dieser Aggression tun.
Wir werden in diesem Buch viel daran arbeiten, unser „mitfühlendes Selbst“ zu entwickeln. Es mag seltsam erscheinen, wenn wir dabei unser Mitgefühl zuerst auf uns selbst richten sollen, da wir uns doch so oft grob und verletzend anderen gegenüber verhalten. Wir werden aber sehen, dass dies sinnvoll ist, wenn wir erst einmal verstehen, woher unsere Aggression kommt und warum es so schwierig ist, mit ihr umzugehen.
Wir sind einfach so, wie wir sind
Im ersten Kapitel habe ich das Beispiel von Thubten Chodron zitiert, in dem sie fragte, was wir fühlen, wenn uns jemand auf der Straße schneidet, und was wir fühlen, wenn wir selbst jemanden schneiden. Dies änderte unsere Perspektive, und wir konnten uns leichter in diejenigen hineinversetzen, die wir bisher so wütend kritisiert hatten. Dies ist ein Beispiel für Empathie, einen sehr wichtigen Teil von Mitgefühl, der es uns ermöglicht, Situationen aus der Sicht der anderen zu verstehen – eine Sicht, die frei ist von dem Gefühl, bedroht oder in Gefahr zu sein. Wenn wir lernen, Identifikationen mit unseren Emotionen zu lösen und über uns und andere auf eine freundliche Weise und mit Verständnis nachzudenken, können wir uns von dem Einfluss von Ärger und Wut befreien, die durch das Bedrohungssystem ausgelöst werden. Wir sehen die Dinge klarer und bekommen mehr Kontrolle über unser Leben.
Entscheidend ist die Erkenntnis der CFT, dass wir alle einfach da sind, als Teil des Lebens, das vor Millionen von Jahren auf diesem Planeten begonnen hat. Wir sitzen sozusagen alle in einem Boot. Wir haben es uns nicht ausgesucht, hier auf diesem Planeten zu sein. Wir sind hier angekommen, in diesem Moment der Geschichte, in diesen bestimmten Formen, mit diesem Gehirn, und mit einer Menge unterschiedlichster Motivationen, Begierden und Gefühle. Wir finden uns alle hier vor, in Situationen hineingeboren, über die wir keine Kontrolle hatten, mit einem Körper und einem Geist, auf die wir keinen Einfluss hatten, und wir sind von Menschen umgeben, deren Gesellschaft und deren Eigenschaften wir nicht gewählt haben. Wir haben weder unsere Hautfarbe gewählt noch unsere körperlichen und seelischen Eigenschaften, d. h. unsere Vorlieben und Abneigungen, ob wir groß oder klein oder dünn oder rundlich sind, ob unsere Zähne gerade oder schief stehen und ob unser Herz belastbar ist oder sehr schwach. Und wir haben uns auch nicht unser Gehirn ausgesucht oder es selbst geplant, und auch nicht wie es funktioniert.
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