Eine Freundschaft aus dem Schicksal geboren
Jutta Andresen
EINE FREUNDSCHAFT AUS DEM SCHICKSAL GEBOREN
WAHRE BEGEBENHEITEN
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2018
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Es ist Montag, der 23. Dezember 2013. Dieser Tag ist ein ganz besonderer Tag, denn morgen ist Heiligabend. Ich liebe Heiligabend und es bringt mir immer wieder großen Spaß, alle Vorbereitungen für das Fest zu treffen. Heute bin ich schon früh aufgestanden, denn der Tag soll harmonisch und perfekt werden. Da aufgrund meiner Arbeit in einer Klinik der Beruf und das Familienleben schwer zu vereinbaren sind, bin ich frohen Mutes und freue mich auf die liebevolle Gestaltung der gesamten Wohnung. Der Rotkohl und die Rouladen stehen bereits auf dem Herd und es riecht köstlich. Die Weihnachtsbäume erstrahlen schon jetzt im Lichterglanz. In diesem Jahr haben wir, mein Mann und ich, uns das erste Mal für eine künstliche Weihnachtslandschaft entschieden. Wir finden sie wunderschön. Wahrscheinlich auch deshalb, weil wir dabei ein echtes Schnäppchen gemacht haben. Mein Mann Hans ist zurzeit noch an seinem Arbeitsplatz. Seit sechs Jahren sind wir mittlerweile verheiratet und ich liebe ihn sehr – er ist mein Traumprinz.
Ich beginne, den Tisch für den morgigen Tag zu decken, denn die ganze Familie wird erwartet: Die Kinder, Enkelkinder, Schwiegermutter, der Schwager und Onkel. Währenddessen lege ich schon einmal die CD von Rolf Zuckowski mit den Weihnachtsliedern in die Anlage. Es sind so fröhliche Lieder und sie erinnern mich an meine jüngste Tochter Tassi. Ihr Platz bleibt dieses Jahr leider leer, denn sie befindet sich zurzeit am anderen Ende der Welt. Vor ein paar Monaten ist sie im Rahmen ihres Studiums für ein Jahr nach Townsville in Australien gegangen und natürlich fehlt sie mir sehr. Noch gestern haben mein Mann und ich ihr Fotos von uns mit ihrem Lieblingsteddy Hugo per WhatsApp geschickt und mit ihr telefoniert. Sie klang so fröhlich und unbeschwert und es tat gut, ihre Stimme zu hören, und zu wissen, dass es ihr gut geht. Sie hatte einen jungen Australier kennengelernt und war schwer verliebt. Sein Name ist Andy und sie war gerade mit ihm aufgebrochen, um in ihren Semesterferien ein wenig mehr von diesem ihr noch unbekannten Land zu entdecken.
Ich mache eine kleine Pause, um mir die schönen Momente mit meiner Tassi ins Gedächtnis zu rufen: Als sie mir freudestrahlend Prospekte von Townsville zeigte und wir gemeinsam schwärmten, wie schön es dort wohl werden möge. Ich hatte ihr gesagt, wie stolz ich auf sie war, und bestand darauf, dass die erste Begegnung mit einem Känguru fotografisch für mich festgehalten werden müsse. Per Handschlag und Umarmung wurde diese Abmachung besiegelt. Es zaubert mir ein Lächeln auf meine Lippen und ich entschließe mich ganz spontan dazu, unsere Fotokiste hervorzuholen. Es ist etwas schwierig und mit Kraft verbunden, denn sie ist im Bettkasten des Schlafzimmer deponiert. Dies ist jedoch kein Problem, denn ich fühle mich gut und ein wenig Krafttraining für die Muskeln kann schließlich nicht schaden. Man ist nun mal nicht mehr die Jüngste!
Mit einer Tasse Tee und meiner Bilderkiste lasse ich mich nun also auf der Couch nieder. Ich liebe es, alte Bilder anzusehen: Aufnahmen meiner älteren Kinder und Enkelkinder, fröhliche, lustige, aber auch Bilder, die mich nachdenklich machen und mein Herz berühren. Ich lege ein Foto beiseite, das meine Freundin Yvonne gemeinsam mit meiner Tassi am Klavier zeigt. Die beiden mochten sich von der ersten Begegnung an. Es war eine besondere Verbindung. Leider verstarb Yvonne 1992 in den USA an Leukämie, doch bis heute ist sie noch immer ganz tief in meinem Herzen und ihr Bild hängt eingerahmt im Wohnzimmer an der Wand. Mich übermannt die Traurigkeit, doch diese vergeht schnell, als ich ein gemeinsames Foto von Tassi und ihrem Schulfreund Nicolas finde. Auf dem Bild sind sie ungefähr 10 Jahre alt und sitzen Popcorn essend auf der Couch. Beide waren während der Kindergarten- und Schulzeit unzertrennlich.
Sie wurden viel belächelt, aber sie hielten immer zusammen. Nicolas mochte es gar nicht gerne, dass Tassi die Namen aller Pokémon schneller aufsagen konnte als er. Dafür konnte er andere Dinge besser und sie ergänzten sich. Welch wertvolle und schöne Erinnerungen!
Ich nehme die beiden Fotos, lege sie auf die Kommode und mit erneutem Kraftaufwand hieve ich die Kiste wieder unter das Bett. Geschafft! Warum genau ich die Bilder herausgenommen habe, weiß ich nicht, aber es fühlte sich einfach richtig an.
Meine Freundin Yvonne mit Tassi.
Tassi mit ihrem Freund Nicolas.
Der heutige Tag sollte mein Leben komplett verändern, doch das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Inzwischen ist mein Mann Hans von der Arbeit gekommen und wir sitzen beide frisch geduscht, jedoch etwas müde, aber zufrieden, auf unserer Couch. Gemeinsam genießen wir glücklich und mit voller Vorfreude unseren Feierabend. Weihnachten kann kommen. Eigentlich sollten wir mit einem Gläschen Sekt anstoßen, aber wir beide sind einfach zu müde.
Es ist ungefähr 21.45 Uhr als es an unserer Haustür klingelt. Mein Mann und ich sehen uns an, ein Blick genügt und wir sind uns einig, um diese Zeit die Tür nicht mehr zu öffnen. Wir wohnen etwas außerhalb der Stadt und haben keine direkten Nachbarn, also wer würde um diese Uhrzeit etwas Dringendes von uns wollen? Doch das Klingeln hört nicht auf, ganz im Gegenteil, es geht über in ein Dauerklingeln. Hans entschließt sich, nun doch die Tür zu öffnen, während ich ins Badezimmer gehe, um mir etwas überzuziehen. Ich höre Stimmen und als es begann, laut an der Wohnungstür zu klopfen, fühle ich, dass etwas nicht stimmt. Eine Stimme fragt meinen Mann: „Ist Ihre Frau zu Hause?“ Mein Herz fängt laut an zu schlagen und als ich die Tür vom Badezimmer öffne, stehe ich zwei jungen Polizisten gegenüber, die mich bitten, mich hinzusetzen. Ich habe Angst, dass meinen Kindern oder Enkelkindern etwas passiert sein könnte, denn das wäre für mich das Schlimmste. Aus weiter Ferne höre ich einen der Polizisten fragen: „Haben Sie eine Tochter, die Tasja heißt?“ „Ja!“, antwortete ich. Mein Herz schreit: „Nein, bitte nicht!“ Ich ahne, etwas ganz Schlimmes ist passiert.
Ich erlebe alles nur noch wie in einem Traum. „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tochter gestern, am 22. Dezember, bei einem Verkehrsunfall in Australien ums Leben gekommen ist. Es tut uns sehr leid. Unser Beileid!“
Ich weine nicht, ich bin ganz stumm.
Ich möchte schreien, doch ich kann nicht.
Neeeeeeeein, das kann nicht sein!
Erst gestern haben wir noch telefoniert, und sie ist glücklich, und es geht ihr gut!
Ich bitte Hans darum, mich zu kneifen, dass es nicht wahr ist.
Bitte, lass mich aus diesem bösen Traum erwachen. Bitte!
Es fühlt sich an, als wenn die Welt stehen bleibt.
Ich bin wie erstarrt.
„Möchten Sie vielleicht etwas essen? Die Rouladen sind ganz frisch gemacht!“, frage ich die Polizisten. Doch sie verneinen. Ich habe das Gefühl, sie sind mit mir überfordert. Sie tun mir leid. Doch sie bleiben sitzen und sehen mich mitleidig an. Stumm höre ich ihre Frage: „Sollen wir Ihnen einen Pastor rufen?“ Ich glaube, Sie sind froh, wenn Sie entlastet werden. Ich kann es auch voll verstehen. Wie in Trance sage ich: „Ja, gerne, ich bin aber nicht in der Kirche.“
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