Steves Geschichte ähnelt der von vielen, die mit Wut kämpfen. Sein Leben mag uns extrem erscheinen. Andere, die aufgrund ihrer unkontrollierten Wut ihre Ehe, Familie oder sogar ihre Freiheit verloren haben, können wahrscheinlich gut verstehen, in welchem Maß er sich zurückhält. Wie Steve fühlen sich vielleicht viele von uns in einer Art Falle ihrer Wut und möchten etwas verändern, aber sind entmutigt, weil sie mit allem, was sie aufbieten konnten, erfolglos waren.
Was meinen wir mit „Ärger“ oder „Wut“?
Eine der Herausforderungen der Psychologie besteht darin, dass viele Dinge, die wir studieren, auch wenn sie uns sehr vertraut erscheinen können (wie „Liebe“, „Selbstwertgefühl“ und auch „Ärger“ oder „Wut“), manchmal ziemlich schwer zu definieren sind. Bleiben wir einen Moment dabei, um ganz klar zu machen, was wir mit „Ärger“ meinen.
Wut gilt als eine der Grundemotionen (3) neben Emotionen wie Angst, Ekel, Freude und Traurigkeit. Dies bedeutet, dass diese Emotion unabhängig zu allen Zeiten und in verschiedenen Kulturen beobachtet wurde. Der Gesichtsausdruck von Wut wird überall verstanden, sogar in der Tierwelt. Das Erleben von Wut kann auch mit den sog. „sekundären Emotionen“ in Verbindung gebracht werden, die Bewusstsein von einem selbst voraussetzen und zu denen Scham (4), Stolz und Verlegenheit gehören.
Wenn wir an eine Emotion denken, stellen wir uns vielleicht schnell vor, wie wir uns „fühlen“, wenn wir diese Emotion erleben. Zu dem „Gefühl“ von Ärger und Wut gehören eine Menge Erfahrungen oder Wahrnehmungen, zum Beispiel körperliche Empfindungen, Motivationen und Weisen zu denken. Wut und andere Emotionen organisieren das Bewusstsein auf eine bestimmte Weise und wirken sich darauf aus, wie man das Leben erlebt und wahrnimmt. Entsprechend stellen sich Wut und andere Emotionen in unserem Gehirn dar – es gibt keine bestimmte Stelle im Gehirn, wo Wut und Ärger zu finden wären. Eher interagieren die Teile des Gehirns, die beeinflussen, wann man wütend oder ärgerlich wird, mit vielen anderen Bereichen des Gehirns und des Körpers (5), die alle zusammen einen „inneren Zustand“ der Wut oder des Ärgers oder ein entsprechendes Muster im Gehirn (brain pattern) hervorrufen. Beim Compassionate-Mind-Modell verwenden wir oft das „Spinnendiagramm“ (Diagramm 1.1), um darzustellen, wie innere Zustände der Wut uns innerlich bewegen können (6). Dieses Diagramm zeigt, wie Wut unser Verhalten uns selbst gegenüber sowie anderen Menschen und der Welt gegenüber verändert.
Wenn wir uns anschauen, wie Ärger oder Wut unser Bewusstsein organisieren, können wir verstehen, dass das, was wir „Ärger“ nennen, eigentlich ein fortschreitender Prozess im Gehirn ist, vergleichbar einer Reihe von Dominosteinen, die alle von allein umfallen, wenn der erste umgestoßen ist. Wenn man seine Wut bemerkt, hat das Gehirn schon den ersten Dominostein gekippt, denn es bewertet die Situation sofort als unerwünscht oder bedrohlich. Der erste Dominostein steht für die Aktivierung unseres Bedrohungssystems durch unser Bewusstsein.
Diagramm 1.1: Wie Ärger und Wut Bewusstsein und Denken organisieren
Bestimmte Teile unseres Gehirns, wie zum Beispiel die Amygdala, entscheiden, wann wir wütend werden. Diese Teile sind die primären Spieler bei dem, was wir das „Bedrohungssystem“ nennen. (Wir werden in Kap. 2 darauf zurückkommen.) Für jetzt reicht es, zu wissen, dass die Aufgabe des Bedrohungssystems darin besteht, Gefahren zu erkennen und schnell darauf zu reagieren. Wie wir sehen werden, hat das System sehr schnelle Reaktionen entwickelt, da sonst die Abwehrmaßnahmen zu spät kommen könnten. Diese Teile unseres Gehirns sind also sehr effizient, und oft sind wir uns dessen, was passiert, nicht einmal bewusst, da sie uns sehr schnell aktivieren, damit wir auf eine reale oder auf eine wahrgenommene Gefahr oder Bedrohung reagieren. Die Dominosteine haben begonnen zu fallen, bevor wir überhaupt wissen, was los ist. Wenn wir zu unserer Erfahrung „erwachen“, sind wir schon mitten in unserem Wutausbruch … und haben zum großen Teil verpasst, wie sich der Prozess aufgebaut hat. Dies ist der Grund, weshalb es sich so anfühlt, als tauchte die Wut plötzlich aus dem Nichts auf.
Es ist wichtig, zu verstehen, dass dieser Ablauf der Dinge nicht unser Fehler ist. Unser Gehirn funktioniert einfach so. Dies ist eine ganz entscheidende Einsicht, auf die wir noch oft zurückkommen werden: Das Umgehen mit Wut und Ärger ist nicht nur eine Sache von Willenskraft oder persönlicher Disziplin. Wenn es uns schwerfällt, unsere Wut zu kontrollieren, bedeutet das nicht, dass wir „uns nicht genug um Veränderung bemühen“ oder dass irgendetwas mit uns nicht stimmt. Schauen wir uns die Erfahrung der Wut jetzt ein wenig genauer an.
Analyse der Erfahrung von Ärger und Wut
Es ist eines der Ziele dieses Buches, Ihnen zu helfen, mit der Natur Ihrer Aggression, Ihrer Wut oder Ihres Ärgers vertraut zu werden und schließlich in der Lage zu sein, auf eine mitfühlende und weise Art, mit Selbstvertrauen und Stärke damit zu arbeiten. Bei diesem mitfühlenden Ansatz geht es nicht darum, Aggression irgendwie „wegzutrösten“ oder sie loszuwerden – das wäre unmöglich, denn Aggression ist ein wesentlicher Teil unseres Menschseins. So können wir lernen, Aggression als Teil dessen zu verstehen, „was uns ticken lässt“, das heißt, was es möglich macht, dass wir funktionieren – aber nicht wie eine tickende Bombe, sondern eher wie eine alte Standuhr aus Großvaters Zeiten. Ein mitfühlendes Verständnis von Aggression bedeutet, Verantwortung dafür zu übernehmen und zu lernen, damit zu arbeiten, statt zuzulassen, dass sie unser Leben bestimmt. Es ist wenig hilfreich, sie in der Hoffnung zu ignorieren, dass sie einfach verschwindet, und auch nicht, Dinge zu tun, die sie nur verschlimmern. Wir werden also die Aspekte von Aggression betrachten, die in dem Spinnendiagramm oben abgebildet sind. Dies hilft uns, eine genaue Vorstellung von den verschiedenen Faktoren zu bekommen, die unsere Aggression ausmachen. Es sind Faktoren, die so zusammenwirken und unser Bewusstsein organisieren können, dass wir in einem Teufelskreis von aggressiven Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen feststecken, die weder konstruktiv noch mitfühlend sind.
Wie es sich anfühlt: Ärger und Wut im Körper
Ärger und Wut sind zunächst etwas, was man fühlt. Unser Körper ist für potentielle Gefahren sensibel, und Teile unseres Gehirns wie die Amygdala, sind darauf ausgelegt, diese Gefahren schnell zu erkennen und darauf zu reagieren. Diese Teile tauschen mit vielen anderen Bereichen des Gehirns und des Körpers Botschaften aus.
Wahrscheinlich sind Sie mit diesem Prozess ein wenig vertraut – denken Sie einfach daran, wie sich Ihr Körper anfühlt, wenn Sie richtig wütend werden. So ist das Gefühl des Körpers, wenn er uns darauf vorbereitet, zu kämpfen – das Nervensystem ist aktiviert und chemische Substanzen wie Noradrenalin werden in den Blutkreislauf ausgeschüttet. Bei körperlicher Erregung beginnt unser Herz zu klopfen, die Atemfrequenz erhöht sich und der Blutdruck steigt. Andere körperliche Veränderungen werden äußerlich sichtbar wie zum Beispiel Anspannung der Muskulatur und des Kiefers und weit geöffnete Augen.
Dazu schlagen wir eine Übung vor, durch die wir wahrnehmen können, wie sich Aggression im Körper auswirkt.
Übung 1.1: Ärger und Wut im Körper
Versuchen Sie, sich an einen Moment zu erinnern, als Sie aggressiv waren oder Ärger empfanden, und konzentrieren Sie sich darauf. Wie nehmen Sie die Aggression in Ihrem Körper wahr? Wie fühlt sich Ihre Aggression an?
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