Der wichtigste Grund aber, warum wir den Wert von Auszeiten bezweifeln, hat mit dem tiefen Bedürfnis eines Kindes nach Verbindung zu tun. Häufig ist ungeeinetes Verhalten ein Ergebnis emotionaler Überforderung, die bewirkt, dass ein Bedürfnis oder ein starkes Gefühl auf aggressive, respektlose oder unkooperative Weise zum Ausdruck gebracht wird. Das Kind kann hungrig oder müde oder aus irgendeinem anderen Grund in dem Moment nicht in der Lage sein, sich zu beherrschen und eine gute Entscheidung zu treffen. Vielleicht liegt die Erklärung einfach darin, dass es drei Jahre alt ist und sein Gehirn noch nicht weit genug entwickelt ist, um es ihm zu ermöglichen, seine Gefühle zu verstehen und ruhig auszudrücken. Statt also sein Bestes zu tun, um seiner fürchterlichen Enttäuschung und Wut darüber, dass kein Traubensaft mehr da ist, Ausdruck zu verleihen, beginnt es, Sie mit Spielzeug zu bewerfen.
Statt eine allgemeine Auszeit anzuordnen …
… lassen Sie Kinder das Treffen guter Entscheidungen üben
In diesen Situationen hat ein Kind unseren Trost und unsere ruhige Präsenz am nötigsten. Es zu zwingen, sich zu entfernen und alleine irgendwo zu sitzen, kann von einem Kind als Verlassenwerden empfunden werden, insbesondere dann, wenn es bereits das Gefühl hat, die Kontrolle verloren zu haben. Die Reaktion kann ihm sogar die subtile Botschaft vermitteln, dass Sie nicht in seiner Nähe sein wollen, wenn es nicht „das Richtige tut“. Sie wollen aber nicht die Botschaft aussenden, dass Sie zu ihm eine Beziehung haben, wenn es „gut“ oder glücklich ist, Sie ihm aber Ihre Liebe und Zuneigung vorenthalten, wenn dies nicht der Fall ist. Würden Sie in einer Beziehung dieser Art bleiben wollen? Würden wir unseren Teenagern nicht nahelegen, darüber nachzudenken, Freunde oder Partner zu vermeiden, die sie so behandeln, wenn sie einen Fehler gemacht haben?
Ist dies die Botschaft, die Sie Ihrem Kind vermitteln wollen?
Wir sagen nicht, dass kurze Auszeiten die schlimmstmögliche Erziehungssmethode sind, dass sie Traumata verursachen oder dass es nie eine Gelegenheit gibt, sie einzusetzen. Wenn sie auf angemessene Art mit liebevoller Verbindung ausgeführt werden, beispielsweise, indem Sie bei dem Kind sitzen und mit ihm sprechen oder es trösten – was eher als „Time-In“ bezeichnet werden könnte –, kann etwas Zeit, um sich zu beruhigen, hilfreich für Kinder sein. Kindern beizubringen, innezuhalten und der inneren Betrachtung oder Reflexion etwas Zeit („Time-In“) zu widmen, ist sogar wesentlich für den Aufbau der exekutiven Funktionen des Gehirns, welche die Impulsivität verringern und die Kraft fokussierter Aufmerksamkeit nutzbar machen. Aber eine derartige Reflexion wird, insbesondere bei kleinen Kindern, im Kontext von Beziehungen erzeugt, nicht in vollständiger Isolation. Wenn die Kinder älter werden, können sie von innerer Reflexion, von einer „Time-In“, profitieren, um ihre Aufmerksamkeit auf ihre innere Welt zu richten. Auf diese Weise lernen sie, das „innere Meer“ zu sehen und die Fähigkeit zu entwickeln, die inneren Stürme zur Ruhe zu bringen. Solch eine „Time-In“ ist die Basis von Mindsight , dem Vermögen, den eigenen Geist und den anderer mit Einsicht und Empathie zu sehen. Und Mindsight umfasst den Prozess der Integration, der es möglich macht, dass innere Zustände sich ändern, dass man von Chaos oder Starrheit zu einem inneren Zustand der Harmonie und Flexibilität gelangt. Mindsight – Einsicht, Empathie und Integration – ist die Grundlage sozialer und emotionaler Intelligenz; indem wir gelegentlich „Time-In“ für die Entwicklung innerer Reflexionskompetenz nutzen, helfen wir Kindern und Jugendlichen also beim Aufbau des Schaltsystems dieser wichtigen Fähigkeiten. Bei der Disziplin ohne Drama würde eine „Time-In“ dafür genutzt werden, ein Verhalten zu beenden (das erste Ziel) und zu innerer Reflexion einzuladen, mit der exekutive Kompetenzen aufgebaut werden (unser zweites Ziel).
Als vorbeugende Strategie kann es effektiv sein, dem Kind beim Schaffen einer „Ruhezone“ mit Spielzeug, Büchern oder seinem Lieblingsstofftier zu helfen, die es aufsuchen kann, wenn es die Zeit und den Platz braucht, um sich zu beruhigen. Das ist innere Selbstregulation, eine grundlegende Fähigkeit der exekutiven Funktionen. (Dies ist auch für Eltern eine gute Idee! Vielleicht ein bisschen Schokolade, Zeitschriften, Musik, Rotwein …) Es geht nicht darum, ein Kind zu bestrafen oder für seinen Fehler bezahlen zu lassen. Es geht darum, eine Wahl anzubieten und einen Ort, der dem Kind hilft, sich selbst zu regulieren, wozu gehört, dass es aus dem Zustand emotionaler Überlastung herausfindet.
Wie Sie auf den folgenden Seiten sehen werden, gibt es Dutzende andere, fürsorglichere, stärker dem Beziehungsaufbau dienende und effektivere Wege, auf Kinder einzugehen, als ihnen automatisch bei jedem Fehlverhalten als universale Standardkonsequenz eine Auszeit zu verpassen. Dasselbe gilt für das Schlagen und sogar für das Verhängen von Konsequenzen im Allgemeinen. Glücklicherweise gibt es, wie wir in Kürze deutlich machen werden, bessere Alternativen als das Schlagen, das Verordnen einer Auszeit oder das automatische Wegnehmen eines Spielzeugs oder Entziehen eines Privilegs. Alternativen, die in logischem und natürlichem Zusammenhang mit dem Verhalten des Kindes stehen, mit denen das Gehirn aufgebaut und eine starke Verbindung zwischen der Mutter oder dem Vater und dem Kind aufrechterhalten wird.
Welches ist Ihre Erziehungsphilosophie?
Der wichtigste Punkt, den wir in diesem Kapitel vermitteln wollten, ist der, dass Eltern auf ungeeignete Verhaltensweisen ihrer Kinder bewusst und absichtsvoll reagieren müssen. Statt eine dramatische oder emotionale Reaktion zu zeigen oder jede Missachtung von Regeln mit einer Universalstrategie zu beantworten, die den Kontext der Situation oder den Entwicklungsstand eines Kindes ignoriert, können Eltern auf der Basis von Prinzipien und Strategien handeln, die ihren Anschauungen entsprechen und mit denen ihre Kinder zugleich als die Individuen respektiert werden, die sie sind. Bei einer Disziplin ohne Drama liegt der Fokus nicht nur auf der Beschäftigung mit den unmittelbaren Umständen und dem Verhalten auf kurze Sicht, sondern auch auf dem Aufbau von Kompetenzen und dem Erzeugen von Verbindungen im Gehirn, die den Kindern auf lange Sicht helfen, wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen und mit ihren Emotionen ganz natürlich gut umzugehen.
Wie sieht es bei Ihnen aus? Wie absichtsvoll handeln Sie, wenn Sie Ihren Kindern etwas deutlich machen wollen?
Nehmen Sie sich jetzt einen Augenblick Zeit und denken Sie über Ihre normale Reaktion auf das Verhalten Ihrer Kinder nach. Reagieren Sie automatisch mit Schlagen, dem Verordnen einer Auszeit oder mit Schreien? Haben Sie eine andere Antwort, derer Sie sich immer sofort bedienen, wenn Ihre Kinder sich ausagieren? Vielleicht tun Sie einfach, was Ihre Eltern getan haben – oder das genaue Gegenteil. Die wirkliche Frage ist die, inwieweit Ihrer Strategie ein bewusster und klarer Ansatz zugrunde liegt und Sie nicht einfach reagieren oder sich auf alte Gewohnheiten und Standardmechanismen verlassen.
Hier sind einige Fragen, die Sie sich beim Nachdenken über Ihre allgemeine Erziehungsphilosophie stellen können:
Читать дальше