Table of Contents
Die Schlüsselmacherin I
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
Die mechanischen Kinder
1.
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10.
11.
12.
13.
Die Bibliothek des Apothekers
1.
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11.
12.
Staub und Kohle
1.
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12.
Das Protokoll
1.
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12.
Chop Suey
1.
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11.
12.
Pinkerton
1.
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12.
Nummer 23
1.
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12.
Shakespeare im Park
1.
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13.
Der graue Baron
1.
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12.
Schachmatt
1.
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12.
Das mechanische Herz
1.
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12.
13.
14.
15.
16.
17.
Impressum
I
Die Schlüsselmacherin
Nebel umhüllte die Ufer der Themse wie ein Leichentuch, als Big Ben die volle Stunde schlug. Seine Glocken hallten gespenstisch über die schlafende Stadt. Es war weit nach Mitternacht und bitterkalt. Eisiger Wind aus Norden kündigte einen Schneesturm an.
Ein Boot trieb auf dem schwarzen Fluss. Der Ruderer mühte sich gegen die Strömung ab, sein Ziel, die Mitte des Wassers, hatte er schon fast erreicht. Von einem kleinen Landungssteg oberhalb der London Bridge aus schipperte er den Fluss hinauf; Blackfriars, Temple, Charing Cross. Wenn es nach ihm ginge, hätte er seine Arbeit auch gleich hinter der Brücke ausgeführt, doch sein Auftraggeber war sehr »speziell« gewesen. Sie sollten noch ein wenig frei sein und schwimmen dürfen, nur für kurze Zeit, bevor man sie fand, hatte er gesagt.
Eine einzelne Aetherlaterne wies ihm den Weg, doch selbst ihr helles Licht vermochte den Nebel kaum zu durchdringen. Der Ruderer zog unermüdlich die Riemen durch das Wasser. Er kannte den Fluss, Old Father Thamse, und die Häuser und Fabriken an dessen Ufer, wie er sein schäbiges Zimmer im Dunkeln kannte. Er brauchte die Häuser nicht zu sehen, um zu wissen, wo er sich befand.
Er hatte die Stunde gut gewählt. Die letzten Arbeiter der Fabriken in Southwark waren längst nach Hause gegangen, und die früh aufstehenden Seemänner und Dockarbeiter schliefen noch. Bei diesem Nebel und dieser Kälte verließ sowieso niemand freiwillig sein warmes Heim.
Ein stetes Dröhnen drang an seine Ohren. Tagsüber, im Lärm der Stadt, war es kaum wahrnehmbar, doch in der Stille der Nacht umso lauter. Er schaute nach oben. Über ihm schwebten zwei Scheinwerferstrahlen durch den Dunst. Ein Luftschiff. Der Größe nach musste es aus Übersee kommen.
Er kümmerte sich nicht weiter darum, denn von dort oben konnte man ihn genauso wenig sehen wie vom Ufer aus. Niemand beachtete ein einsames Boot auf dem Wasser.
Er hatte die richtige Stelle erreicht und zog die Ruder ins Innere des Bootes. Dann wandte er sich seiner Fracht zu. Zwei längliche Bündel lagen gut verschnürt und fest verpackt im Heck. Vorsichtig, um das Boot nicht allzu sehr ins Schwanken zu bringen, stand er auf und stemmte das erste nach oben. Es war schwer, aber nicht ganz so schwer wie ein Kohlesack. Er hievte es hoch und warf es in den Fluss. Er widmete sich dem zweiten, stutzte jedoch. Glitzerte da etwas? Er nahm die Laterne zur Hand und leuchtete das Heck aus.
Eine der Schnüre hatte sich gelöst und gab den Inhalt des Bündels preis. Metall blitzte im Licht der Aetherlaterne. Es sah aus wie eine Hand. Er fluchte und spuckte seinen Rest Kautabak über Bord. Sein Auftraggeber hatte ihm gesagt, dass die Bündel gut verzurrt sein mussten. Man hatte ihn sehr gut bezahlt bisher, und dies war nicht das erste Mal, dass er in die Mitte des Flusses gerudert war. Er durfte seinen Auftraggeber nicht enttäuschen. Dieser würde es sofort bemerken, falls er seine Arbeit nicht erledigte.
Mit wenigen Handgriffen hatte er die Sackleinen zurechtgezurrt und die Schnur neu verknotet. Nun sah alles ordentlich aus. Er hob das Bündel hoch und warf es ebenfalls ins Wasser. Das laute Klatschen, als es die Oberfläche durchbrach, störte die Stille. Aber er war zufrieden.
Er setzte sich wieder, nahm die Ruder zur Hand und machte sich auf den Weg zurück an Land. Für heute Nacht war seine Arbeit getan.
Der Himmel über der Garnet Street explodierte in tausend Farben.
Lydia Frost kämpfte sich durch die Menge. Laute Musik und das Knallen der Feuerwerke donnerten in ihren Ohren. Ein Feuerspucker erhellte die Straße vor ihr. Die Menschen um sie herum begannen zu applaudieren.
»Entschuldigung, dürfte ich durch?«
Sie schlängelte sich weiter durch die Zuschauer, deren Gesichter abwechslungsweise rot, orange, grün und blau erstrahlten. Der Rauch der Feuerwerke kratzte in ihrer Kehle, und es roch stechend nach Schwefel. Frost bog um eine Ecke und nickte den beiden Türstehern, die vor einem mit Fackeln erhellten Eingang standen, zu. Sie ließen sie wortlos ein.
Die Stille, die sie umfing, war beinahe ebenso laut wie die Feuerwerke draußen vor der Tür. Mit fahrigen Bewegungen rückte sie ihren Wollmantel zurecht und klemmte eine lose gewordene Strähne ihrer braunen Haare hinter das Ohr. Ihr Blick fiel auf ihre Stiefel, und so unauffällig wie möglich versuchte sie, den daran haftenden Dreck abzuschütteln. Das musste reichen.
Frost nahm das Geschenk aus ihrer Umhängetasche und hielt es wie einen Schutzschild vor ihren Körper.
Es hatte sie einiges an Überwindung gekostet, heute Abend hierherzukommen. Vor drei Monaten hatte sie sich dazu entschieden, ihrer Ziehfamilie den Rücken zu kehren, um auf eigenen Füßen zu stehen. Sie hatte es sattgehabt, ein Werkzeug für das Imperium der Organisation zu sein. Die Möglichkeit, sich ein Leben außerhalb der Familie aufzubauen, würde so schnell nicht wiederkommen. Sie hatte dafür kämpfen müssen, dass sie sie gehen ließen, obwohl sie von Anfang an nie richtig dazugehört hatte, weil sie anders war. Sie war keine Chinesin. Madame Yueh hatte sie als Kind von der Straße aufgelesen, und ihr stellte sich niemand in den Weg. Aber die Fähigkeit, jede Tür öffnen zu können, hatte sie zum perfekten Hilfsmittel gemacht.
Frost atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Trotz allem fühlte sie sich ihrer Familie immer noch verpflichtet. Wenigstens soweit, dass sie sie zum chinesischen Neujahr besuchte. Es wäre unhöflich gewesen, hätte sie es nicht getan, und sie wollte das sonst schon schwierige Verhältnis nicht noch stärker belasten.
»Ich möchte bitte Madame Yueh sprechen«, sagte sie zu dem Chinesen, der soeben hinter einem Perlenvorhang hervortrat. Er trug traditionelle Kleidung und war der Hausvorsteher.
»Ah, Miss Lydia«, begrüßte der Mann sie mit einem freundlichen Nicken. »Ein glückseliges neues Jahr wünsche ich Ihnen.«
Frost machte eine leichte Verbeugung. »Das wünsche ich Ihnen ebenfalls, Mr. Lee.« Sie wartete, bis auch er sich der Höflichkeit entsprechend verbeugt hatte, dann erkundigte sie sich erneut nach ihrer Ziehmutter. »Ich würde ihr gerne ein Neujahrsgeschenk überreichen.«
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