»Madame lag ja auch so ewig in diesem Swimmingpool. Tot! Es war schrecklich! Das hat sie nicht verdient. Niemand wollte sie aus dem Wasser ziehen.«
Bendix schaute sie irritiert an. »Warum nicht?«
»Die Leute hatten Angst.«
»Angst? Wovor?«
»Vor dem Tintenfisch natürlich«, sagte die Haushälterin.
»Tintenfisch?«
»Ja, ein ziemlich großer, mindestens ein Meter lang. Er hatte sich schon um Madame geschlungen.«
Es war schon später Nachmittag, als Bendix mit Bart nach Épernay zurückfuhr. Sie kehrten in die Bar Brasserie Le Parisien ein, um die Trauerfeier zu besprechen. Der Gang ins Parisien an der Rue Porte Lucas, nur wenige Meter von Bendix’ Wohnung entfernt, gehörte zu ihren Ritualen. Die unkonventionelle Bar hatte neben frischen Burgern, Salaten, Pommes frites, englischen Sandwiches und Croque Monsieur auch Bier, Whiskey, Gin und alle möglichen Champagnersorten zu bieten. Vor allem aber gefiel ihnen die freundliche und lässige Art, mit der die schon nicht mehr ganz so junge, aber immer noch drahtige und mit Tattoos übersäte Wirtin in ihren knappen Shorts und dem freizügig ausgeschnittenen Oberteil ihre Gäste bediente.
Bart bestellte eine Flasche Drappier. In der Champagne konnte man in jeder Kneipe und jedem Pub Champagner trinken. Es war so selbstverständlich wie anderswo Bier oder Schnaps. Bart schaute Bendix skeptisch an.
»Was ist los mit dir?«, fragte er endlich.
Bendix hing schlapp am Tresen und begaffte die Wirtin, die ihnen gerade zwei Gläser eingoss. Er nahm sein Glas, nickte Bart kurz zu und leerte es in einem Zug. Es nagte an ihm, dass er immer noch so gut wie nichts über die Recherchearbeit seines Bruders wusste. Die einzigen Dokumente, die er aus dem Fundus seines Bruders aufbewahrt hatte, waren Briefe, die ihr gemeinsamer Großvater, Hugo Kaldevin, an André während seiner Gefängniszeit geschrieben hatte. Dieser Briefwechsel war umso ungewöhnlicher, da die französische Justiz nach dem Zweiten Weltkrieg den Großvater beschuldigte, während der Besatzungszeit mit den Deutschen zusammengearbeitet zu haben. Hugo Kaldevin war Fahrer der Lastwagen für große Champagnerhäuser. Er hatte damals jeden Job angenommen. Er brauchte das Geld und scheute sich tatsächlich nicht, für die Deutschen zu arbeiten. Insofern drohte ihm nach dem Krieg nicht die Todesstrafe, aber die »nationale Ächtung«. Dass das Verfahren letztlich niedergeschlagen wurde, lag daran, dass er als Fahrer Einblick in die Champagnerlieferungen bekommen hatte – auch in diejenigen, die für die deutschen Soldaten außer Landes gingen. Diese Listen gab Hugo an die Résistance weiter. Denn in der Region, in die besonders viel Champagner geliefert wurde, waren meist viele deutsche Soldaten stationiert – und damit die Gefahr einer baldigen Offensive sehr wahrscheinlich. Sobald die Résistance von solchen besonderen Lieferungen erfuhr, gab sie diese Information an den britischen Geheimdienst weiter.
Bendix hatte sich den Briefwechsel in den vergangenen Tagen noch einmal zur Hand genommen. Es war ein liebevoller Austausch voller Verständnis von Großvater zu Enkel. Sie hatten sich über Bücher und Autoren, über Lebensansichten und politische Strömungen, aber auch über den ganz gewöhnlichen Knastalltag ausgetauscht. Das Einzige, das Bendix schon bei der ersten Lektüre vor Jahren stutzig gemacht hatte, war der Hinweis auf eine junge Freundin, die André angeblich gehabt haben sollte.
»Bart, ich brauche deine Hilfe«, sagte er schließlich.
»Natürlich!«, rief Bart feixend und lachte, weil er nichts anderes erwartet hatte. »Tut mir leid. Aber der Lachreiz ist einfach stärker als ich.«
Bendix schlug mit der flachen Hand genervt auf den Tresen. »Es ist mir ernst. Ich habe das Gefühl, dass sich die Vorfälle der vergangenen Tage wie eine Schlinge um meinen Hals legen. Erst die Recherchesache mit meinem Bruder, dann dieser Reschenhauer, der ein Freund von Victor Stauder war. Seine Tochter stirbt, und der Mörder hinterlässt mit dem Tintenfisch ein Symbol, das angeblich uns alle angeht. Und dann will Madame Kahnweiler auch noch irgendwas über die Familie Stauder wissen. Ich brauche mehr Informationen.«
Bart schaute ihn grübelnd an. Er arbeitete seit fast fünfzehn Jahren für die Familie Kahnweiler. Seine Chefin war für ihn eine Respektsperson, die er selten bis nie in Zweifel stellte. Dass sie manchmal streng und aufbrausend war, machte ihm nicht viel aus. Bart konnte geduldig sein und vieles ertragen – zumal er wusste, dass Madame Kahnweiler sich letztlich immer schützend vor ihn und ihr ganzes Team stellen würde.
»Vielleicht ging es ihr eben nicht um Elisabeth«, erklärte er, »sondern um Victor Stauder.«
»Das ist möglich«, antwortete Bendix. »Aber was kann das sein?«
Bart zuckte mit den Achseln.
Bendix spielte am Stiel seines Glases herum und betrachtete die aufsteigenden Bläschen. Ein guter Champagner bestand aus weit mehr als aus der Perlage. Er schmeckte vor allem nach einem guten Wein, und er hatte Tiefe. »Tiefe«, dachte er. Da kam ihm eine Idee. »Ihr habt doch den alten Stauder beerdigt. Da müsste es doch noch Unterlagen geben.« Er machte eine Pause. »Und du hast Zugang zu eurem Archiv. Kannst du nicht mal nachschauen? Vielleicht ist damals irgendetwas passiert.«
Bart stöhnte. Ohne Genehmigung von Madame Kahnweiler durfte er offiziell nicht in die Akten schauen. Als er aber Bendix’ ungeduldigen Blick sah, sagte er: »Also meinetwegen. Ich versuche etwas für dich.«
Sie verabschiedeten sich, und Bendix schwankte die wenigen Meter zu dem Haus, in dem er wohnte. Er hatte etwas Mühe, in die erste Etage hinaufzulaufen, öffnete die Wohnungstür, trat ein, zog sich noch im Gehen die Schuhe aus, indem er mit der Spitze des einen Fußes auf die Ferse des anderen trat, warf sein Jackett auf das Sofa und ging in die Küche. Der Hunger trieb ihn an. Im Kühlschrank gab es noch etwas von Madame Lacomblets Nationalgericht. Er krempelte sich die Ärmel hoch und wollte gerade zugreifen, da klingelte es an der Haustür. Er seufzte. Besuch hatte er nicht mehr erwartet. Er hätte jetzt viel lieber gegessen, dann auf seinem Sofa rumgelungert und irgendetwas von Bob Sinclar gehört. Verdammte Belästigung, dachte er. Genervt schlurfte er zum Eingang und öffnete wieder die Tür.
»Bonjour!« Ein schick gekleideter Mann im Anzug, etwa so alt wie er selbst, schaute ihn neugierig an. »Spreche ich mit Monsieur Kaldevin?«
Bendix sah gleich, dass das rechte Auge des Mannes ein wenig höher stand als das linke. Die Haare wuchsen wild in alle Richtungen, ein Haarchaos, das seinem Besucher etwas Komödiantisches verlieh. Der Mann lächelte und war gleichzeitig auf umständliche Weise damit beschäftigt, seine Zigarette auszudrücken.
»Brauchen Sie einen Aschenbecher?«, fragte Bendix.
Der Mann hielt die Zigarette wie ein übles Sekret weit von sich weg.
»Oh ja«, sagte er, »das wäre hilfreich.« Dann machte er Anstalten, die Wohnung zu betreten. »Ich bin Kommissar Krug, Alain Krug. Darf ich hereinkommen?«
Bendix war von dem Besuch des Kommissars so überrascht, dass er automatisch zur Seite trat. Er wusste nicht, was er von der Selbstverständlichkeit, mit der der Kommissar in seine Wohnung stolzierte, halten sollte. Der Name Krug war zwar schon eine Visitenkarte an sich. Aber für Bendix war er kein Freibrief. Jeder in der Region, der diesen Namen trug, gehörte zum weitverzweigten Stamm einer noblen Winzerfamilie. Der Name stand für einen der besten und teuersten Champagner überhaupt. Der Mainzer Johann-Josef Krug hatte das Weingut Mitte des 19. Jahrhunderts in Reims gegründet, seine Nachkommen hatten es zu weiterem Ruhm geführt. Dass Alain Krug beruflich kein Winzer, sondern nur Kommissar war, nahm ihm zwar den Nimbus des Göttlichen. Doch Bendix, der einer bescheidenen Winzerfamilie entstammte, hatte im Laufe seines Lebens gelernt, dass sich Träger berühmter Namen oft über ihren Namen und weniger über ihren Charakter oder ihre Fähigkeiten definierten. Und auch Kommissar Krugs Attitüde sprach dafür. Er wirkte auf Bendix wie ein englischer Dandy oder irgendeine dieser schicken Personen aus der Rue du Faubourg Saint-Honoré in Paris. Passend zum gestreiften Anzug trug er ein Einstecktuch, dazu ein offenes Hemd mit gestärktem Kragen und an den Ärmeln auffällige Manschettenknöpfe. Die Hose hatte keine Falten, und die klassischen Fullbrogue-Schuhe mit den typischen Lochverzierungen an Spitze und Ferse waren blank geputzt. Kurzum, er sandte das eindeutige Signal eines Stenzes aus, der im Bewusstsein lebte, dass ihm sowieso alle Dinge zuflogen.
Читать дальше