Martin Roos, Jahrgang 1967, wurde am Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik in Tübingen promoviert und arbeitete als Wirtschaftsredakteur für die Verlagsgruppe Handelsblatt. Heute ist er Autor, Journalist und Redenschreiber. 2019 wurde er zum Chevalier im »Ordre des Coteaux de Champagne«, einem der ältesten Weinorden Frankreichs, ernannt.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/geniusksy
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Dr. Marion Heister
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-805-4
Originalausgabe
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Auf Löwen und Ottern wirst du gehen
und treten auf junge Löwen und Drachen.
Psalm 91,13
Champagne, 3. Oktober 1942
Es fehlten nur noch wenige Steine, bis der kleine Seitengang im hinteren Weinkeller zugemauert war. Josef-Jacob Armand trug etwas Mörtel in die verbliebene Lücke auf, zog mit der Kelle nach und setzte die letzten Steine ein. Das Versteck war zu. Noch ein paar Flaschen weniger für die Deutschen. Er stieg von der kleinen Leiter herab und klopfte sich die Kleidung aus. »Henri«, sagte er zu seinem Sohn, »wo hast du die Spinnen?«
Henri stand neben ihm, ein kleiner Junge, gerade mal so groß, dass er eine Magnumflasche halten konnte, die Backen rot, die Augen voller Entdeckerfreude, das Kinn halb bedeckt von dem Schal, den er gegen die Kälte im Keller trug. Er hob den kleinen Korb in die Höhe, damit sein Vater besser hineinschauen konnte.
»Gut gemacht«, sagte Josef-Jacob und strich ihm über den Kopf. »Jetzt verteilen wir sie.«
Sie setzten die Spinnen an verschiedenen Stellen der frisch gemauerten Wand ab. Henri hatte keine Angst vor Spinnen. Als Winzersohn waren sie ihm hier in Damery im Weinkeller seines Vaters früh begegnet und vertraut. In wenigen Stunden würden sie mit ihren Netzen die neue Mauer in eine alte verwandelt haben. Die Deutschen würden nicht merken, dass hinter dieser Wand ein Schatz versteckt lag.
Seit Beginn der Besatzung Frankreichs vor zwei Jahren hatten die Deutschen auch in der Champagne das Sagen. Sie bestimmten die Menge an Champagner, die ihnen die französischen Winzer liefern mussten, und diktierten ihnen die Preise. Sie wollten viel Champagner – für ihre Soldaten und Offiziere, für ihre Finanz- und Industrie-Elite, für die Treuesten ihres Regimes und die Clique um ihren Führer. Und wer sich weigerte, ihren Regeln zu folgen, wurde verhaftet und eingesperrt. Oder starb. Obwohl die Gefahr groß war, ließen sich viele Winzer nicht einschüchtern. Sie hielten ihre besten Weine zurück, versteckten sie, sabotierten Lieferungen und sprengten Eisenbahnlinien in die Luft, auf denen die Güterzüge Hunderttausende von Flaschen aus allen Weinregionen Frankreichs ins Deutsche Reich transportierten.
Henri wusste nicht, dass sein Vater der Résistance angehörte. Die Arbeit, die sie im Keller verrichteten, war für ihn oft wie ein Spiel. Schon mehrmals hatte er geholfen, die Flaschen umzuetikettieren. Sein Vater hatte ihm gesagt, dass sie damit die Deutschen ein bisschen ärgern und ihnen Sorten, die weniger hochwertig waren, unter teurerem Label verkaufen wollten. Und dann hatte er gelacht, und Henri hielt diese Schummelei nun für einen herrlichen Schabernack. Jemanden reinzulegen war immer ein Riesenspaß, dachte er. Er sollte dann den Staub, mit dem sie die Flaschen versahen, um sie älter aussehen zu lassen, aus uralten Teppichen schlagen. Das war weniger schön. Denn er bekam ziemliche Hustenanfälle.
Angst vor dem Krieg hatte er bisher nicht gehabt. Doch er spürte, dass der Gang, den sie nun zugemauert hatten, mehr als nur ein Spiel war. Einmal hatte er Gespräche seines Vaters mitgehört, in denen es darum ging, jemanden zu verstecken in den Hunderte von Kilometern langen Weinkellern und Kalksteinhöhlen, den crayères, die die ganze Region durchzogen. Von Verfolgung war die Rede, von Gefahr, von geheimen Treffen und von Erschießungen. »Papa«, sagte Henri schließlich, »wenn wir Flaschen verstecken, verstecken wir dann auch bald Menschen?«
Sein Vater schaute ihn ernst an. »Natürlich nicht«, sagte er. Dann nahm er ihn fest in den Arm.
Heute Abend würden die Ersten kommen.
Der Regen trommelte auf die Grabplatten des Nordfriedhofs von Reims. Das Wasser troff von den schmalen Säulen und Stelen, den kleinen Gruften und Mausoleen aus beigem oder grauem Sandstein und weißem Marmor. In den Blechdosen, die Besucher den herumstreunenden Katzen hingestellt hatten, schwamm aufgeweichtes Futter. Viele der alten Gräber der ersten Champagnerdynastien waren verwittert, von Moos überwachsen und wirkten wie verwunschen. Und doch zeugten ihre immer noch stolz in die Höhe ragenden Türmchen, Giebel und Kuppeln von Größe. Ein paar »Cheese«-Rufe von kreischenden amerikanischen und asiatischen Touristen, die sich in ihren bunten Regenjacken vor dem Mausoleum der alten Veuve Clicquot gegenseitig fotografierten, tönten herüber.
Bendix Kaldevin fühlte sich in seinem Anzug, über den er einen dunklen Gabardinemantel gezogen hatte, klamm und begossen. Er war groß und schlank und bot dem Regen viel Angriffsfläche. Die blonden Haare fielen ihm nass über Stirn, Ohren und Kragen. Immer wieder wischte er sich die Wassertropfen, die von seiner Nase auf das markante Kinn herabträufelten, mit einem Einstecktuch weg. Als Madame Kahnweiler, die Chefin des Beerdigungsinstitutes, ihn gebeten hatte, eine Trauerrede auf Henri Armand zu halten, hatte er sofort zugestimmt. Trauerreden halten konnte er. Zwar war es nicht einfach, über den alten Armand, der nun mit dreiundachtzig Jahren gestorben war, zu sprechen. Immerhin handelte es sich um den Patriarchen, den heimlichen König der Champagne. Doch Bendix mochte Herausforderungen. Dass der heutige Tag eine Kette von Ereignissen auslösen würde, die sein Leben für immer veränderten, konnte er nicht ahnen.
Seit sieben Jahren arbeitete Bendix als Trauerredner. Er war Mitte dreißig, als ihn Bart Lasalle, die rechte Hand von Madame Kahnweiler, auf die Idee gebracht hatte, Trauerreden zu halten. Sie waren seit der Kindheit befreundet. Bendix hatte an der Sorbonne Philosophie und Rhetorik studiert, und Bart wusste, dass sein Freund nicht nur in der Theorie gut war, sondern Reden auch schreiben und halten konnte. Er hatte ihn in der Kathedrale von Reims erlebt, als er aus Anlass ihrer Achthundert-Jahr-Feier 2011 eine leidenschaftliche Rede über den Champagner als die eleganteste Droge der Könige gehalten hatte.
Bendix gefiel Barts Vorschlag. Denn er kannte den emotionalen Zustand, den Trauer auslöste. Und die Möglichkeit, Menschen in ihrer Trauer Trost zu spenden, erfüllte ihn. Er war noch keine zwanzig Jahre alt, als sein acht Jahre älterer Bruder André tot in der Marne gefunden wurde. André war ein Vorbild für ihn gewesen, dem er immer nachzueifern versuchte. Die Umstände seines Todes wurden nie ganz geklärt. Der Verlust des Bruders hinterließ in Bendix eine Leere, die er anfangs kaum zu füllen wusste. Er musste lernen, mit dem Trauma zu leben, und entwickelte allmählich ein besonderes Händchen für den Tod. Immer wenn in seinem Umfeld jemand starb, wusste er sofort, was zu tun war. Er meldete sich bei den Betroffenen, ging ohne Scheu auf sie zu und versuchte zu helfen. Und sei es, dass er ihnen ein Stück Kuchen brachte. Der Schmerz um seinen Bruder hatte ihn jedoch nie ganz verlassen.
Bendix blickte über die Ansammlung der Trauergäste. Er kannte viele von ihnen, Winzer, Gastronomen, Stadträte und Familien aus der Region. Er stammte selbst aus einer Winzerfamilie, wenn auch aus einer kleinen. Der alte Armand war für ihn eine Führungsfigur aus dem Lehrbuch – einer, der streng und gütig zugleich war, manchmal uneinsichtig, aber selten zum Schaden anderer. In seiner Gegenwart konnte man gar nicht anders, als sich selbst als etwas Besonderes zu empfinden.
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