Ein Lächeln huschte auf einmal über Billiots Gesicht. Zum ersten Mal heute. »Vielleicht erst am Tag ihres Todes«, sagte er schließlich.
Maude schnalzte wieder mit dem Kaugummi. »Na ja«, murmelte sie schmatzend, »jeder verschönt sich, wie und wann er will.« Sie versuchte offensichtlich, die Stimmung zu retten. »Warum nicht auch an seinem Todestag? Das macht man in vielen Kulturen.«
»Aber nicht in Frankreich«, erklärte Bart trocken.
»Und woher willst du wissen, dass sie wusste, dass es ihr Todestag war?«, fragte Bendix zweifelnd.
»Jeder, der sich umbringen will, weiß, wann sein Tag gekommen ist«, erklärte Maude unbeeindruckt.
»Klar«, sagte Bendix, »aber wieso gehst du hier so selbstverständlich von Selbstmord aus? Das Tattoo sieht doch danach aus, als ob es in aller Eile angefertigt worden wäre. Warum gab es da diese Hektik? Und warum war sie so übermäßig betrunken? Um sich Mut anzutrinken, muss man nicht so viel saufen.« Er dachte an seinen Bruder, den man am Ufer der Marne auch mit viel Alkohol im Blut gefunden hatte. Sein Bruder wäre niemals so dumm gewesen, betrunken ins Wasser zu steigen. Schon deswegen war es für Bendix damals kein Unfall gewesen. Sein Bruder war ein erfahrener Schwimmer. »Es war kein Unfall«, sagte er nun laut.
Alle schauten ihn an. »Was meinst du?«, fragte Bart.
Bendix blickte erschrocken. Er merkte, wie er in Gedanken kurz abgeschweift war. »Ich meine, äh«, er zögerte, »ich werde sicher bald herausfinden, wie sie umgekommen ist.« Jetzt schauten alle noch ungläubiger. Da lächelte Bendix ertappt und hob die Hände. »Nein, also, ich wollte sagen, die Polizei wird sicher bald herausfinden, wie sie umgekommen ist.«
Madame Lacomblets dicke Oberarme schwappten bei jedem Messerstoß auf und nieder. Die scharfe Klinge schlug wie ein Fallbeil millimetergenau in die Zwiebel, dann auf den Knoblauch, die Pfefferschote und schließlich quer durch die Petersilie. Kleinste Stücke spritzten links und rechts zur Seite. Mit einer schnellen, eleganten Bewegung schob sie das zerkleinerte Gemüse mit dem Messer zusammen, nahm es und ließ es durch die Hände in die kleinen Schüsseln vor ihr gleiten. Sie lächelte. Ihre weißen Zähne leuchteten hell in dem dunklen, sympathischen Gesicht. Dann griff sie nach den geschälten Kartoffeln und schnitt sie in Sekundenschnelle in kleine Würfel, dass es nur so klackte. Schließlich nahm sie die Auberginen, wusch sie, trennte den Stielansatz ab und zerteilte sie nach der Paysanne-Methode, nicht in runde, sondern in viereckige, zwei Millimeter dicke Scheiben. Die Paysanne, die bäuerliche Technik, hatte sie schon als kleines Kind bei ihrer Mutter im Senegal gelernt.
Bendix, der vor der offenen Küche seiner Wohnung am Esstisch saß, blickte durch die offenen Fenster nach draußen auf die Rue Porte Lucas. Er wohnte nun schon einige Jahre in diesem geräumigen Vier-Zimmer-Appartement mitten in Épernay. Für ihn war es die schönste Wohnung, die er zwischen der Montagne de Reims, dem Marne-Tal, der Côte des Blancs und der Côte des Bar finden konnte. Von draußen strömte eine warme Brise in diesem wieder einmal heißen Sommer durch die beiden hohen Sprossenfenster herein, leicht angereichert mit dem Duft der Chocolaterie im Erdgeschoss. Er war ein musischer Mensch und genoss die Sanftheit des Augenblicks. Im Hintergrund spielte leise die Musik des französischen DJs Bob Sinclair.
»Monsieur Bendix, was ist los? Sind Sie wieder einmal unglücklich verliebt?«, fragte Madame Lacomblet und musste lachen, denn sie wusste um Bendix’ Schwachpunkt. Seit zwei Jahren war sie seine Haushälterin, seine femme de ménage. Erst sollte sie nur die Wohnung reinigen. Doch schnell hatte sie zu Bendix ein mütterliches Verhältnis entwickelt und vorgeschlagen, ihm nach Bedarf auch ein Mittag- oder Abendessen zu bereiten. Bendix liebte gutes Essen und natürlich Champagner. Das war der einzige Luxus, den er sich leistete. Und Madame Lacomblet. Dass er sie bezahlen und sich überhaupt einen gewissen Lebensstandard leisten konnte, lag nur daran, dass er von einem verstorbenen Onkel Geld geerbt hatte. Madame Lacomblet stammte aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Dakar. Als eine der ersten Einheimischen traute sie sich, am Strand von Yoff auf alten, ausrangierten Surfbrettern über die Wellen des Atlantiks reiten. Sie war damals eine der Besten – auch wenn man es ihr heute nicht mehr ansah. Sie hatte einige Pfunde zugelegt und wirkte durchaus korpulent. Vor dreißig Jahren war sie als Teenager aus ihrem Geburtsland, dem Senegal, nach Frankreich gekommen. Nur noch selten ging sie surfen. Heute gehörte Thieboudienne, das Nationalgericht ihrer Heimat, eine Fisch-Reis-Pfanne, zu ihren Spezialitäten.
Bendix schaute gequält und zog es vor, ihr nicht zuzuhören. Ihr Messer sauste nun in das Fischfilet, und in Sekundenschnelle schnitt sie mundgerechte Stücke. Modefine, die schwarze Katze, die ihm seine letzte Freundin als Beweis ihrer unzertrennlichen Liebe geschenkt hatte, streichelte Madame Lacomblet schnurrend um die dicken Waden. Früher oder später würde ein Stück Fisch zu ihr herabfallen.
»Oder haben Sie gestern wieder zu viel mit Monsieur Eitan getrunken?« Sie lachte.
Eitan Eisenberg, sein Etagennachbar, ein Fotograf, war ein eigenwilliger Typ und mehr als gewöhnungsbedürftig. Aber Bendix mochte ihn. Denn Eitan war der Einzige, mit dem man vollkommen grundlos zu jeder Tages- und Nachtzeit Champagner trinken konnte. »Nein«, sagte er, »ich war wieder auf Tour und bin müde.« Er lächelte bemüht.
Madame Lacomblet wusste Bescheid. Bendix’ Zweitjob als Gemüsedesigner verlangte von ihm frühes Aufstehen. Heute Morgen hatte es ein wenig gedauert, bis er die zwei großformatigen Stillleben in Öl in den Supermärkten von Damery und Bouzy richtig platziert und aufgehängt hatte – das eine mit Früchten neben Weinglas und Karaffe, das andere neben Kaninchen und Meerschweinchen. Er wechselte diese Bilder je nach Saison. Am liebsten ergänzte er echtes und gemaltes Gemüse. Über eine Formation von Spargelbünden hängte er eine hügelige Landschaft grüner und blauer Trauben, zu einem aufeinandergestapelten Haufen Kohlrabi kombinierte er gemalten Brokkoli und Blumenkohl, über Melonen und Trauben brachte er ein Stillleben mit Seekrabbe und gefülltem Weinglas an. Er kaufte die Bilder auf Antikbörsen und Flohmärkten. Er liebte die Porträtkollagen von Giuseppe Arcimboldo, Gesichter aus Blumen, Früchten und Gemüse. Manche malte er auch selbst, allerdings eher einfach, großformatige, farbenfrohe Bilder mit riesigen Orangen, Trauben oder Zitronen. Viele dieser Werke hatten sich mittlerweile in seiner Wohnung angesammelt. Sie zierten die Wände und stapelten sich im Keller.
Madame Lacomblet bohrte ein Loch in die Mitte der Filetstücke und füllte es mit einer Zwiebel-Kräuter-Mischung. »Oui, Monsieur«, sagte sie nur, wobei sich das »Oui« wie ein Zischen anhörte. »Ich bin gleich fertig, Monsieur Bendix. Soll ich Ihnen ein Glas Champagner eingießen?«
Er lehnte dankend ab. Für Alkohol war es selbst ihm noch zu früh. Da klingelte es an der Tür.
Bendix war überrascht. Er hatte niemanden erwartet. Er öffnete, und eine große, schlanke Frau trat in die Wohnung. Ihre dunklen, dichten Haare fielen ihr offen links über die Schulter. Zu den hochhackigen schwarzen Schuhen trug sie einen grauen, eleganten Hosenanzug, auf Taille geschnitten. Unter dem Blazer mit langem Revers, Ein-Knopf-Verschluss, paspelierten Pattentaschen und geknöpften Manschetten leuchtete eine weiße Bluse, geöffnet bis zum dritten Knopf. Auf ihrer Haut glänzte vom grazilen Hals bis zum Brustbein herabhängend eine Roségoldkette, an der ein schwarzblauer Stein baumelte, ein Saphir, handgeschliffen und poliert in Form einer Weintraube. Sie drehte sich zu Bendix um und lächelte. Es war Charline Armand, die älteste Tochter von Henri Armand.
Читать дальше