»Es ging immer um den Champagner«, raunzte Reschenhauer ihn wieder an, »alle mussten sich arrangieren. Niemand konnte damals unschuldig bleiben.« Für einen Moment starrte er Bendix regungslos an. »Selbst die Résistance nicht.«
Gerade wollte Bendix ihm erklären, dass es einen großen Unterschied ausmachte, auf welcher Seite man im Krieg seine Unschuld verlor, da schrie Reschenhauer ihn an: »Viele Champagnerhäuser waren von den Deutschen doch so begeistert, dass sie die SS-Offiziere in ihre Repräsentanzen einluden! Das weißt du wohl nicht, hé?«
Dass dieser Mann mehr als nur unfaire oder gar schmutzige Geschäfte auf dem Kerbholz hatte, konnte sich Bendix nur allzu lebhaft vorstellen. Ihn jedoch weiter zu provozieren hatte wohl wenig Sinn, zumal Reschenhauer Anstalten machte, zu gehen.
Bendix musste ihn aufhalten. »Dass Elisabeth gehbehindert war, wussten Sie aber, oder?«, fragte er ihn schnell.
Reschenhauer drückte sich mit dem Stock in die Höhe, bis er sein Gleichgewicht fand. Er hatte sich wohl mittlerweile etwas beruhigt. Nach einer Weile sagte er schließlich: »Natürlich, ihr ganzes Leben lang.« Dann gab er Morel ein Zeichen. »Ich muss gehen.«
Bendix sprang auf. »Glauben Sie, dass sich Madame Stauder das Leben genommen hat?«
Reschenhauer schaute ihn kopfschüttelnd an. »Wie kommen Sie darauf? Sie hat sich nicht umgebracht. Mit dem lahmen Bein konnte sie noch nicht mal auf einen Stuhl steigen. Wie sollte sie da über einen Balkon geklettert sein? Sie ist runtergeworfen worden. Jemand hat sie getötet«, sagte er und schlug mit dem Gehstock auf den Boden. »Die Polizei wird es schon noch herausfinden.«
»Warum sind Sie so sicher, dass es Mord war?«
»Warum?«, wiederholte Reschenhauer. Wie in Zeitlupe verwandelte sich sein bisher strenges Gesicht in ein höhnisches Grinsen. »Weil das die Rache des Tintenfischs ist.«
»Was für eine Rache? Was für ein Tintenfisch?« Bendix war nun vollends irritiert.
»Finden Sie es selbst heraus«, sagte Reschenhauer. Dann griff er nach dem Arm von Morel: »Aber ich warne Sie – seien Sie schnell. Denn wir alle werden das hier nicht überleben.« Dann ging er davon. Er schien sein Schicksal schon seit Langem zu erwarten.
Es waren unerwartet viele Besucher gekommen, sodass nicht alle einen Platz in der kleinen Kapelle Sainte-Croix auf dem Nordfriedhof von Reims finden konnten. Viele standen draußen vor dem Eingang zwischen den vier steinernen Säulen, die der kleinen Sainte-Croix das Aussehen eines Mini-Tempels verliehen, und versuchten, durch die geöffneten Türen einen Blick in das Innere zu erhaschen.
Sainte-Croix war zwar sanierungsbedürftig, doch Bendix mochte die kleine Kapelle. Schon das erste Mal, als er ihr als Jugendlicher in Alexandre Dumas’ Roman »Le Chevalier de Maison-Rouge« begegnet war, hatte er Sympathie für sie entwickelt. Er stand neben dem Eichensarg, während hinter ihm auf dem kargen Altar der Rauch der flackernden Kerzen in die von Ruß geschwärzte kleine Kuppel hinaufstieg. Einen solchen Andrang hatte er nicht erwartet. Da die Stauders keine Angehörigen hatten und als nicht sehr beliebt galten, war Madame Kahnweiler davon ausgegangen, dass das öffentliche Interesse nicht groß sein würde. Sie hatte in Absprache mit Elisabeth Stauders Haushälterin die kleine Sainte-Croix gebucht. Die Haushälterin hatte allerdings darum gebeten, auf kirchlichen Beistand, Musik und jegliche Form von Blumenschmuck zu verzichten, nicht jedoch auf einen Trauerredner.
Bendix blickte in die gefüllte Kapelle und sah in der ersten Reihe die Haushälterin sitzen. Sie trug eine dunkle Sonnenbrille und einen wallenden Hut, über den ein schwarzer Schleier fiel. Unaufhörlich hielt sie sich ein Taschentuch an die Nase und schniefte. Etwas weiter fiel ihm Eitan, sein Nachbar, auf. Er kam manchmal, um seine Trauerreden zu hören und ihm später zu sagen, was er alles hätte besser machen können. Hinten an der Wand der Kapelle stand Bart. Er hatte seinen Supervisor-Blick aufgesetzt und überwachte die Szenerie. Bendix suchte nach dem alten Reschenhauer. Bisher hatte er ihn nicht finden können. Zu seiner Überraschung entdeckte er Charline. Als sich ihre Blicke trafen, lächelten sie sich kurz zu. Sie war mit ihrem Bruder Benoit gekommen.
Jetzt gab Bart Bendix ein Zeichen.
Bendix verstand, holte sein Manuskript hervor, räusperte sich und sagte: »Elisabeth Stauder ist tot. Für diejenigen, die sie kannten, kam ihr Tod überraschend und viel zu früh.« Er hielt inne und schaute in das Rund der kleinen Kapelle. »Ihr Tod war dramatisch. Zweifellos. Aber manche Menschen sterben, wie sie leben. Und Elisabeths Leben war ebenso spektakulär wie tragisch.« Er erzählte von ihrer Leidenschaft für den Champagner, den großen Wein, der von den Gegensätzen, der Unterschiedlichkeit der Trauben, dem Zusammenspiel und dem Ausgleich der Temperamente lebte. Anders allerdings als der Champagner, der ausgewogen, schwungvoll und perfekt sein konnte, war ihr Leben alles andere als perfekt. Es glich einer Cuvée, einer besonderen Mischung, aber nicht aus Trauben und Jahrgängen, sondern aus Zwängen und Sehnsüchten. Elisabeth wollte sich nie an einen Partner binden. Sie lebte allein – und möglicherweise lag das an der Treue zu ihrem Vater. »Doch einen liebte sie besonders«, sagte Bendix und machte eine kurze Pause. »Den Smoking.«
Einige lachten und erinnerten sich an ihr Outfit. Bendix dachte an die vielen Reden, in denen er das Leben des Toten für die Hinterbliebenen zurechtgedrechselt hatte. Reden über Menschen, die niemand vermisste, über Gewerkschaftsbosse, die keiner leiden konnte, über Frauen, die ihre Männer hassten. Polemisch zu werden war genauso wenig seine Sache, wie Trübsal zu blasen. Immer hatte er es geschafft, einen versöhnlichen Abgang für alle hinzubekommen. Und am besten gelangen ihm die Reden, wenn er selbst Spaß daran hatte.
»Sie trug den Smoking bei jedem erdenklichen Anlass«, fuhr Bendix fort, »bei Geburtstagen, Beerdigungen, in der ersten Klasse im Flugzeug und selbst morgens vor der Massage.« Bendix schaute kurz noch einmal auf. Dann fuhr er fort: »Sie brauchte die Eleganz des Smokings, die schöne und heile Welt, die er für sie verkörperte, um die Fäulnis der Vergangenheit, die sich immer wieder in ihr Leben schlich, besser zu ertragen. Und auch heute trägt sie ihn, den Smoking – hier in diesem Sarg. Natürlich haben wir eine Flasche Champagner dazugelegt. Und so bin ich sicher: Wo immer sie ankommt, wird man sie freundlich empfangen.«
Als ob die Trauernden nur auf seinen Schlusssatz gewartet hätten, begannen sie sofort, zu husten, zu prusten, zu schniefen und sich zu schnäuzen – in verschiedenen Frequenz- und Intensitätsgraden. Bendix ging auf seinen Platz zurück. Dann verging ein Moment der Stille. Auf ein Zeichen von Bart traten schließlich die in Schwarz gekleideten Sargträger in die kleine Kapelle, nahmen den Eichensarg und gingen hinaus. Schweigend schlossen sich die Besucher dem Trauerzug an. Bendix blieb am Altar zurück.
Da kam die Haushälterin auf ihn zu. »Es war gut, dass Sie nicht erwähnt haben, wie sie zu Tode gekommen ist«, sagte sie und reichte ihm die Hand. Sie lächelte ihn dankbar an, und doch flackerten ihre Augen, als ob sie ihm noch etwas sagen wollte. Bendix bemerkte ihre Unentschlossenheit. Sie wollte sich abwenden, doch er ließ ihre Hand nicht los, bis sie ihn anblickte, ruhiger wurde und sagte: »Ich hatte Ihnen gegenüber Madame Stauders lahmes Bein mit Absicht nicht erwähnt. Sie hasste dieses Bein und fühlte sich damit unweiblich. Sie konnte nicht elegant laufen und noch nicht einmal richtig auf einen Hocker steigen.« Wieder holte die Haushälterin ihr Taschentuch hervor und tupfte sich die Tränen von den Wangen. Bendix murmelte ein paar Worte des Beileids. Doch eigentlich dachte er darüber nach, dass es Elisabeth wahrscheinlich tatsächlich unmöglich gewesen war, über den Balkon zu steigen und hinabzuspringen. Die Haushälterin packte das Taschentuch wieder ein.
Читать дальше