Wenn aber Seelsorge etwas spezifisch christliches ist, ist dieses Spezifikum dann überhaupt gesellschaftlich gefragt? Seelsorge als Sichaussetzen, wie Pock schreibt, empfinde ich als hilfreiche Idee. Ich ergänze aber noch: Interesse am anderen, an seiner aktuellen Befindlichkeit, aber auch an seinen/ihren Sinnresourcen und Deutungen, die angesichts der persönlichen Krise greifen oder nicht greifen, und die Kompetenz, diese sprachlich und symbolisch zu stärken oder mit der Person nach neuen (christlichen) Ressourcen zu suchen. Ich meine schon, dass wir wissen müssen, warum wir von Seelsorge sprechen und der Begriff nicht nur ein Äquivalent zu säkularen Vollzügen darstellt.
Johann Pock erwähnt zweimal den Begriff der Hauskirche. Einmal stellt er fest, dass sie gelebt bzw. wieder entdeckt wurde, die zweite Stelle spricht von der liturgischen Hauskirche, die er auf Seelsorge hin entgrenzen will. Ich nehme die Rezeption der Hauskirche entsprechend wahr und gleichzeitig ärgere ich mich über diese liturgische Verkürzung, die dann augenblicklich kritisiert wird, als ob das private Haus zum Konkurrenten der kirchlichen Gebäude werden könnte. Die Hauskirche ist ja ein biblisches Phänomen, aber biblisch war sie nicht nur liturgisch konzipiert. Wenn Hans Josef Klauck von der sich hausweise konstituierenden Kirche spricht, dann meint er die Hauskirche als „Gründungszentrum und Baustein der Ortsgemeinde, Stützpunkt der Mission, Versammlungsstätte für das Herrenmahl, Raum des Gebets, Ort der katechetischen Unterweisung, Ernstfall der christlichen Brüderlichkeit“ ( Klauck , 102). In der Geschichte Israels entwickelten sich in und nach dem Babylonischen Exil (587–538 v. Chr.) Synagoge und Haus als die zentralen Orte für Versammlungen, für die Lektüre und Diskussion der Tora und Prophetenschriften. Auch Jesus lehrt und heilt an beiden Orten, in der Synagoge und in einem ganz normalen Haus in Kafarnaum. Die Synagoge und das Haus sind im 1. Jahrhundert n. Chr. Orte jüdischen Glaubens und Lebens, an denen über die Schrift nachgedacht und sie gelebt wird. Die Hauskirche heute könnte wieder ein zweites von mehreren Standbeinen der Kirche und keine Konkurrenz sein, wenn in ihr Christsein in allen seinen Dimensionen gelebt wird, also Glaubenserfahrungen erlebt und kommuniziert werden, Solidarität und Nächstenliebe gelebt und geplant wird und gemeinsam gefeiert wird, indem man Erlebtes in Erinnerung an Jesus deutet und symbolisiert.
Freilich ist die heutige wie die damalige Hauskirche nicht auf das private Wohnhaus und die Kernfamilie beschränkt, sondern birgt die Möglichkeit pluraler Orte und Zusammensetzungen. Wenn es durch die Coronakrise zu einer Wiederbelebung der Hauskirche in neuen Formen und Gestaltungen kommt, dann wäre wieder einmal Wachstum im Blick und nicht nur Erhalt und Abwicklung.
LITERATUR
Klauck, Hans Josef,Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum, Stuttgart 1981.
Kling-Witzenhausen, Monika,Was bewegt Suchende?
Leutetheologien – empirisch-theologisch untersucht, Stuttgart 2020.
Theologie reformulieren – aber auch den Praxiserfahrungen etwas zutrauen
Die Replik von Johann Pock auf Christiane Bundschuh-Schramm
Die Corona-Pandemie hinterfragt alle Lebensbereiche und lässt nichts unberührt. Daher ist Bundschuh-Schramm voll zuzustimmen, dass auch die Theologie in Frage gestellt wird – und dass es mehr und nicht weniger Theologie braucht. Sie konzentriert sich daraufhin vor allem auf einen Aspekt, nämlich die Rede von Gott. Auch hier teile ich ihre Kernthese: Es gibt unterschiedlichste Gottesbilder und Gottesvorstellungen, die nicht erst durch die Pandemie in Frage gestellt sind, aber hier nochmals radikalisierter angefragt werden müssen. Vor allem ein „allmächtiger“ Gott, oder auch männlich geprägte Gottesbilder finden immer weniger Halt in der erlebten Wirklichkeit. Ich teile auch ihre These, dass Gott nicht primär die Antwort ist, sondern die „Lücke“, (offene) Beziehung, ein mitleidender Gott.
Für die Theologie sehe ich jedenfalls die Aufgabe, letztlich alle Traktate anzuschauen und sich zu fragen, welche Anfragen die Pandemie darin stellt und ob die Begrifflichkeiten und Konzepte diesen Fragen standhalten. Denn Theologie versucht mit den Mitteln der Vernunft in der jeweiligen Zeit darzulegen, wie die Texte der Bibel und der Tradition zu verstehen sind. Und zugleich entwickelt sie die Lehre der Kirche auch immer wieder weiter angesichts von neuen Fragen, Begriffen und Erfahrungen.
Dies gilt natürlich für die Gotteslehre, welche von Bundschuh-Schramm angeführt wird, aber auch für andere Traktate. So findet sich aktuell recht wenig zur Eschatologie: Während die Pandemie so intensiv die Frage nach Leben und Tod stellt, ist ja die Frage nach den letzten Dingen nicht unberührt davon. Genauso muss man die Gnadenlehre ansehen und die Frage stellen, in welcher Form angesichts des Leides, das durch die Pandemie verursacht wird, von der Gnade Gottes gesprochen werden kann. Auch die Ekklesiologie, die Frage nach der Kirche und ihrem Werden ist massiv hinterfragt: Wie sieht es mit der Bedeutung von Vergemeinschaftung aus? Welche Rolle spielt darin der gemeinsame Sonntagsgottesdienst? Welche theologische Qualität hat eine virtuelle Gemeinschaft über neue Medien? Auch diese Fragen sind nicht erst durch die Pandemie entstanden – was sich nicht zuletzt an der veränderten Wahrnehmung des Leitungsdienstes in der Kirche in den letzten Jahren gezeigt hat. Welche theologische Bedeutung haben päpstliche Twitterbotschaften oder morgendliche päpstliche Predigten?
Bei aller Sympathie für und Zustimmung zur „vorsichtigen Theologie“, die Bundschuh-Schramm benennt, gibt es jedoch zugleich die berechtigte Erwartung der Menschen, dass ihnen auch Wegweisung geboten wird. Diese gehört meines Erachtens zu den zentralen Aufgaben einer Religion. Die Zeitdiagnose teile ich: dass wir in unsicher gewordenen Zeiten leben. Andererseits gab es Unsicherheiten (und noch viel größere) auch zu anderen Zeiten. Eine Religion, die nicht auch Sicherheiten anzubieten hat (sowohl im Hier und Jetzt, als auch für ein „Danach“), verliert ihre Berechtigung. In der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate heißt es: „Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie von je die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“ ( Nostra aetate 1).
Eine Religion, die nicht auch Sicherheiten anzubieten hat (sowohl im Hier und Jetzt, als auch für ein „Danach“), verliert ihre Berechtigung.
Die Wegweisungen und Hilfestellungen sind aus Tradition und Gegenwart zu entwickeln – und Bundschuh-Schramm gibt ja auch Antworten, z. B. mit der Netzwerk-Theorie im Blick auf die Beziehungskategorie. Wissenschaftlich arbeite ich vor allem mit Fragen und Hypothesen – dies treibt Wissenschaft voran. In der Praxis sind jedoch auch Antworten notwendig. Das Spannende in der aktuellen Situation ist für mich gerade, dass manche bisherigen Antworten brüchig geworden sind. Zugleich haben Menschen auch das Recht auf Hilfestellung, wenn sie ihre Trauer nicht ausleben können, weil sie zum sterbenden Angehörigen nicht gehen durften oder weil die gewohnten Trauerrituale untersagt waren. Oder wenn die üblichen Routinen, die bisher einen Rhythmus des religiösen Lebens geboten haben, unterbrochen sind.
Читать дальше