INHALT
THEMA
Hör auf(!)s Scheitern…
Von Maria Elisabeth Aigner
Scheitern und Aufhören als spirituelle Herausforderung und Ressource
Von Katharina Karl
Was hat Scheitern mit Gott zu tun?
Die Replik von Maria Elisabeth Aigner auf Katharina Karl
Sein dürfen und Sein lassen
Die Replik von Katharina Karl auf Maria Elisabeth Aigner
Im Scheitern aufhören können
Praktisch-theologische Impulse zum Umgang mit bedeutsamen Verlusten
Von Christian Kern
PROJEKT
Letzte-Hilfe-Kurse
Ein Beitrag zu einer sorgenden Gemeinschaft
Von Petra und Tilman Kirste
INTERVIEW
„Die Krone der Schöpfung ist nicht der Mensch, sondern der Schabbat.“
Ein Gespräch mit Werner Kohler
PRAXIS
Schluss machen
Oder: Von der Kunst, mit dem Aufhören anzufangen
Von Hans-Joachim Höhn
Eine Ordensgemeinschaft hört (auf)
Oder: Das Ende des einen ist der Anfang eines anderen
Von Sr. Benedicta-Maria Kramer
Gepflegt scheitern
Der Salzburger Coworking Space „Mirabell5“ und die „FuckUp Nights“ für junge Unternehmer
Von Dominik Elmer
Erfolgskritische Faktoren einer charismenorientierten Pastoral
Lernen aus einem gescheiterten Experiment
Von Theresa Faupel
Mit Gott aufhören
Von Gotthard Fuchs
Als die Geschichte zu Ende war
Deuteronomistische Theologie angesichts der Katastrophe des Exils
Von Barbara Schlenke
FORUM
Homiletische Entwicklungen in Polen
Einblicke in eine kaum bekannte Landschaft
Von Leszek Szewczyk
POPKULTURBEUTEL
Ikonen
Von Stefan Weigand
NACHLESE
Re:Lecture
Von Peter Walter
Buchbesprechungen
Impressum
Bernhard Spielberg Mitglied der Schriftleitung
Liebe Leserin, lieber Leser,
dreißig Stunden müssen reichen. So viel Zeit ist für das Durchschreiten der Niederlage vorgesehen. So lange ist Unordnung erlaubt, steht das Programm still. Dann muss es weitergehen. Noch prächtiger als zuvor. Dreißig Stunden liegen zwischen dem „Es ist vollbracht“ der Karfreitagsliturgie und dem „Lumen Christi“ der Osternacht. Dreißig von achttausendsiebenhundertsechzig Stunden im Jahr.
In Kirchen lässt sich in dieser Zeit beispielhaft beobachten, wie unterschiedlich auch in der Seelsorge mit dem Scheitern umgegangen wird: Die einen bleiben beim Alten. Weggeräumt wird nur, was man beim Auszug unkompliziert aus dem Altarraum mitnehmen kann. Es muss ja ohnehin bald wieder alles an seinem Platz sein. Andere können es kaum erwarten, wieder Halleluja zu singen. Das Osterfeuer wird noch im Sonnenschein des Karsamstags entzündet. Wieder andere verklären Leid zur Tugend und Schmerz zur Prüfung – untermalt durch detaillierte Darstellungen. Und es gibt die, die der Leere Platz machen, die sich in Liturgie wie Pastoral dem Scheitern aussetzen, sich aber auch nicht damit abfinden.
In dieser letzen Spur bewegt sich dieses Heft. Es hat zwei merkwürdig unverbundene Themen: Scheitern und Aufhören. Beide werden zunächst für sich betrachtet: Maria Elisabeth Aigner und Katharina Karl gehen den psychologischen bzw. spirituellen Ebenen des Scheiterns auf den Grund. Christian Kern nimmt daran anschließend die feine Verbindung zwischen beiden in den Blick: Im Widerfahrnis des Scheiterns kann die unverfügbare Gabe des Aufhörens liegen. Sie braucht Orte und Rituale, um wirksam zu werden und zu einem neuen Anfang zu verhelfen. Auf dieser Linie bewegen sich die weiteren Beiträge: So beschreiben unter anderem Petra und Tilman Kirste ganz praktisch „Letzte-Hilfe-Kurse“, Hans-Joachim Höhn entfaltet die Kunst, mit dem Aufhören anzufangen. Schließlich zeigen Gotthard Fuchs und Barbara Schlenke – in je eigener Perspektive –, was passieren kann, wenn man Gott aufhört.
Die dreißig Stunden nach dem Kreuzestod sind ein kostbares Leerzeichen der Liturgie: Ostern wird es nicht trotz des Scheiterns, und auch nicht wegen des Scheiterns. Ostern kann es im Scheitern werden. „Das Gelingen“ – so hat es Klaus Hemmerle formuliert – „muss immer erscheitert werden. Die Erlösung muss immer erscheitert werden.“
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!
JProf. Dr. Bernhard Spielberg
THEMA
Hör auf(!)s Scheitern…
Soeben hat es draußen zu regnen aufgehört – so wie das Klavierspiel des Nachbarn direkt ober mir plötzlich zu einem Ende gekommen ist. Hat er von selbst zu spielen aufgehört? Hat ihm jemand gesagt: „Hör auf zu spielen!“? Oder ist er an dem anspruchsvollen Stück gescheitert? Im Tod fallen das Aufhören und das Scheitern zusammen. Das Leben geht zu Ende, es hört auf – unwiederbringlich. In dem Moment scheitern wir mit all unseren Vorhaben und Vorgaben, unserem Sehnen und Verlangen, dem Dasein noch ein wenig Zeit abzuringen. Jedes Leben geht auf dieses Scheitern zu.
Maria Elisabeth Aigner
Im ursprünglichen Wortsinn war es das Schiff, das „scheiterte“, und zwar an den Klippen der Küste. Dort zerbirst und zerschellt es, bricht in tausend Stücke, wird zerstört (vgl. Klessmann, 256). So kann sich scheitern auch existentiell anfühlen, und zwar dann, wenn das Leben nicht von Erfolg gekennzeichnet ist, nicht „geglückt“ zu sein scheint.
Die Psychologie hat – um lebensgeschichtliche Brüche zu beschreiben und zu veranschaulichen – vor allem auf die Begriffe Krise, Trauma oder Konflikt rekurriert und auch deutlich gemacht, wie wir uns dazu verhalten können: mittels Kriseninterventionen, Resilienz, Trauma- und Konfliktbewältigungsstrategien.
Der Begriff des Scheiterns hingegen suggeriert Endgültiges. Scheitern scheint in westlichzivilisierten kapitalistischen Gesellschaften mit ihren neoliberalen Wirtschaftssystemen genau das Gegenteil von „Erfolg“ zu sein. Das Start-up Unternehmen ist gescheitert, weil es pleitegegangen ist; Ehen und Paarbeziehungen scheitern, die Medizin „scheitert“, wenn die Krankheit zum Tod führt; „gescheiterte Existenzen“ sind es, die man unter den Psychiatriepatient/innen in der geschlossenen Abteilung, den Obdachlosen und Pennern zu finden meint. Auch Jesus „scheitert“ am Kreuz. Scheitern gehört insofern konstitutiv in das begriffliche Repertoire christlicher Theologie. Wenn das Gegenteil von Scheitern zur Voraussetzung und Bedingung für das Leben wird, ist es die Theologie, die ihre Stimme erheben muss.
SCHEITERN UND CHANCE
Krisen, Konflikte, traumatische Ereignisse sind ebenso wie das Scheitern gewissermaßen Bestandteil jeder Biografie. Sie gehören zu den Wachstumsprozessen im Lebensverlauf. Das Leben „wider-fährt“ uns mit voller Wucht – auch wenn wir geneigt sind, uns manches Mal gegen dieses Widerfahrnis aufzulehnen und entgegenzustemmen, dagegen aufbegehren wollen. Heftige Ereignisse von außen können Prozesse des Scheiterns in Gang setzen. Scheitern gibt es jedoch auch im Stillstand, in der Erstarrung der Lebendigkeit, im Festgezurrt-Sein durch Muster und unhinterfragte Gewohnheiten. Zum Leben gehört auch all das, was überhaupt Leben ermöglicht: materielle und geistige Nahrung, Sicherheit und Geborgenheit, Zuwendung, Beziehung, Liebe und Glück. Um den Alltag bewältigen zu können, benötigen Menschen eine bestimmte Form von ontologischer Sicherheit („ontological security“), wie dies der Soziologe Anthony Giddens bezeichnet. Im Kontext von Pastoralpsychologie und Seelsorge spricht man in diesem Zusammenhang von „Seinsgewissheit“ (Ziemer, 221), die nötig ist, um angesichts menschlicher Kontingenzerfahrungen Boden unter den Füßen zu behalten.
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