THEMA
Warum habt ihr uns verlassen?
Empirische Befunde zum Kirchenaustritt und mögliche pastorale Konsequenzen
Von Ulrich Riegel und Tobias Faix
„Diese Menschen müssen uns doch etwas zu sagen haben!“
Dissens und Konflikt als Zeichen der Zeit
Von Gunda Werner
Vom Wert des Zuhörens
Die Replik von Ulrich Riegel und Tobias Faix auf Gunda Werner
Über den Konflikt hinaus
Die Replik von Gunda Werner auf Ulrich Riegel und Tobias Faix
Weder „ganz drinnen“ noch „ganz draußen“?
Ein differenzierender Blick auf den Kirchenaustritt und seine Folgen
Von P. Hans Langendörfer SJ
PROJEKT
Über Geld, pastorale Chancen und nötige Kirchenentwicklung – die Kirchenaustrittsstudie des Bistums Essen
Von Markus Etscheid-Stams, Regina Laudage-Kleeberg und Thomas Rünker
INTERVIEW
„Ein Schritt aus dem Bannkreis der eigenen Kirchlichkeit“ – Wie das Kulturchristentum die Kirchen bereichern kann
Ein Gespräch mit Johann Hinrich Claussen
PRAXIS
„Siegt der Mammon?“
Von René Löffler
Jenseits der Zahlen – eine Botschaft
Von Johann Ammer
Gekommen, um zu bleiben?
Schlaglichter auf den Wiedereintritt in die katholische Kirche
Von Katharina Grager
Wiederaufnahme – eine pastorale Chance
Von P. Peter Waibel SJ
Kirche aus gutem Grund
Von Elke Wewetzer
FORUM
Pro Pope Francis
Weltweite Unterstützung für Papst Franziskus
Von Paul M. Zulehner
Poesie und Philosophie. Der sapientiale Schreibton von Hanns-Josef Ortheil
Von Erich Garhammer
POPKULTURBEUTEL
Der Nachbar schafft’s
Von Bernhard Spielberg
NACHLESE
Glosse
Von Annette Schavan
Buchbesprechungen
Impressum
Ute Leimgruber Mitglied der Schriftleitung
Liebe Leserin, lieber Leser,
seit Jahren schon verlieren die christlichen Kirchen immer mehr Mitglieder, die Kirchenbindung der Menschen erodiert zusehends. Nun ist aber der Kirchenaustritt nicht einfach nur ein Thema von emotionaler Zugehörigkeit und institutioneller Bindung. Das Thema Kirchenaustritt wirft äußerst brisante pastoral-, kirchenrechtlich- und systematisch-theologische Fragen auf. Anlässlich der zutiefst erschütternden Ergebnisse der sog. „MHG-Studie“ über sexuellen Missbrauch stellt sich die Frage nach einer Kirche, die verbleibwürdig ist, erst recht und in besonderer Schärfe (Heft 3/2019 wird sich mit dem Thema Missbrauch beschäftigen). Es geht um nichts weniger als die Bestimmung, welche Kirche die Kirche in Zukunft sein will.
Die Lebendige Seelsorge macht in diesem Heft ein ökumenisches Panorama zum Thema Kirchenaus- und wiedereintritt auf. Ulrich Riegel und Tobias Faix identifizieren das „Warum“ der Kirchenaustritte; Gunda Werner plädiert für eine Gestalt der Kirche, die Konflikt theologisch so wertschätzt, dass sich Einheit und Pluralität gegenseitig nicht ausschließen. Einen anderen Blickwinkel nimmt P. Hans Langendörfer SJ ein, der angesichts der divergierenden Hintergründe der Kirchenaustritte trotz der rechtlichen Eindeutigkeiten eine differenzierende pastorale Vorgehensweise vorschlägt.
Viele der Texte beziehen sich auf die Studie „Kirchenaustritt – oder nicht?“ des Bistums Essen. Deren Autor/innen Markus Etscheid-Stams, Regina Laudage-Kleeberg und Thomas Rünker präsentieren die Studie und fordern eine Neubesinnung des kirchlichen Selbstverständnisses. Im Praxisteil werden u. a. Projekte vorgestellt, die „direkte Beziehungsarbeit“ leisten und damit die Kirchenmitgliedschaft face to face und kreativ buchstabieren: Johann Ammer stellt beispielsweise die Regensburger Telefon-Hotline mit Austrittswilligen vor, P. Peter Waibel SJ resümiert seine seelsorgliche Arbeit mit Wiedereintrittswilligen im Erzbistum München, und Elke Wewetzer beschreibt die Werbeaktion www.zurueck-zur-kirche.deder evangelischen Kirche in Bayern. Ein Problem ist das oftmals viel zu enge Verständnis des Christlichen, sagt Johann Hinrich Claussen im Interview, es braucht unterschiedliche Formen der Zugehörigkeit. Das Heft zeigt, dass Kirche und Theologie von und mit den Menschen, die aus der Kirche austreten oder wieder in sie eintreten wollen, eine Menge lernen können.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihre
Prof. Dr. Ute Leimgruber
Warum habt ihr uns verlassen?
Empirische Befunde zum Kirchenaustritt und mögliche pastorale Konsequenzen
Austritte fordern die Kirche heraus. Manche Bistümer stellen sie vor finanzielle Herausforderungen, alle Bistümer aber sind in ihrer Pastoral angefragt: Wer sind diese Menschen, die die Kirche verlassen? Warum verlassen sie die Kirche? Und was kann kirchliche Seelsorge im Hinblick auf diese Menschen tun? Der folgende Beitrag geht diesen Fragen nach, indem er vorliegende Studien bilanziert und Beobachtungen aus einer eigenen Studie ergänzt. Ulrich Riegel und Tobias Faix
2016 sind knapp 362.000 Menschen aus den beiden großen christlichen Kirchen ausgetreten. Statistisch können sie – zumindest Stand heute – vernachlässigt werden, denn ihr Anteil an der absoluten Mitgliederzahl beider Kirchen liegt unter einem Prozent. Ausgetretene stellen eine marginale Gruppe im Gros derer dar, die beiden Kirchen angehören. Finanziell ändert sich das Bild dahingehend, dass fast nur Menschen aus der Kirche austreten, die auch Kirchensteuer zahlen. Bistümer ohne umfänglichen Grund- und Immobilienbesitz scheinen hier bereits ernsthafte Einbußen zu spüren, wie z. B. die sog. Verbleibstudie des Bistums Essen (vgl. S. 331–335) andeutet.
Pastoral werfen Kirchenaustritte ernsthafte Fragen auf. Aus römisch-katholischer Perspektive wird ein Mensch durch die Taufe der Kirche eingegliedert und somit in die communio plena berufen (vgl. Müller) . Obwohl prinzipiell unzerstörbar, kann der Mensch diese communio durch sein Verhalten beschädigen und in eine communio plena non plene überführen. Der Kirchenaustritt stellt einen solchen menschlichen Akt dar, weil sich in ihm der Mensch aus der hierarchisch verfassten kirchlichen Gemeinschaft löst, die – in römisch-katholischer Perspektive – einen Grundpfeiler der communio plena darstellt (LG 14).
Damit wirft der Kirchenaustritt aber die Frage auf, warum Menschen, die durch ihre Taufe in römisch-katholischer Perspektive in die communio plena berufen sind, nach – in der Regel – vielen Jahren diese Gemeinschaft verlassen, um in communio plena non plene zu leben? Was sind ihre Motive? Und wie sehen die inneren Loslösungsprozesse aus?
MOTIVE DES KIRCHENAUSTRITTS
Seit vielen Jahrzehnten wird diese Frage vor allem durch den Blick auf die Motive der Menschen beantwortet, warum sie die Kirche verlassen (für einen Überblick vgl. Riegel/Kröck/Faix, 125 – 133). Viele Menschen treten aus den Kirchen aus, weil sie ihnen als altmodisch und aus der Zeit gefallen vorkommen. Zu diesem Image tragen zum einen theologische und ethische Ansichten bei, die mit einem modernen Weltbild als unvereinbar erscheinen (z. B. eine kirchliche Sexualmoral oder die Rollen von Frauen in kirchlichen Vollzügen), aber auch hierarchische Strukturen, die in einer demokratisch verfassten Gesellschaft als nicht mehr opportun erachtet werden. Dann nennen viele Ausgetretene die Kirchensteuer als Austrittsgrund. Manchen ist sie zu hoch für den Service, den sie im Gegenzug bekommen. Anderen dient sie als Symbol für den Reichtum der Kirchen, der entweder nicht mit ihrem jesuanischen Anspruch vereinbar erscheint oder in den Augen der Ausgetretenen unzweckmäßig eingesetzt wird.
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