THEMA
Kindheit und Zeitgenossenschaft
Eine soziologische Skizze
Von Heinz Hengst
Kinderschutz, Kinderbildung, Kinderpartizipation
Historische Wurzeln und aktuelle Provokationen
Von Hubertus Lutterbach
Partizipation ohne Leiter
Die Replik von Heinz Hengst auf Hubertus
Lutterbach
Kinder als lernende Subjekte inmitten ihrer Lebens- und Lernsysteme
Die Replik von Hubertus Lutterbach auf Heinz
Hengst
Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder!
Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Wachsens
Von Hans-Joachim Sander
PROJEKT
Mit dem „Circo Fantazztico“ auf Tournee durch Europa
Von Ruth Baumannn
INTERVIEW
„Wir versuchen, Unterstützung zu geben.“
Ein Gespräch mit Andrea Stippel
PRAXIS
Kinderwunsch – ein Weg mit Gott?
Von Birgit Hoyer
Die Gnade der Kindertheologie
Zur Erklärung eines religionspädagogischen
Zugangs am Beispiel der Auslegung von Lk 16, 19-31
Von Mirjam Zimmermann
Kinderarmut – „Mama, sind wir eigentlich arm?“
Von Michael Schäfers
Ich habe das Recht, eine Brasilianerin zu sein.
Von Regina Reinart
Kinder für Kinder, von Haus zu Haus
Von Markus Offner
FORUM
Auf die Straße!
Sozialpastoral als Selbstverwirklichung der Kirche
Von Stefan Silber
POPKULTURBEUTEL
Die dritte Kaffeewelle
Von Stefan Weigand
NACHLESE
Glosse: Urbi et orbi
Von Annette Schavan
Buchbesprechungen
Impressum
Hildegard Wustmans Mitglied der Schriftleitung
Liebe Leserin, lieber Leser,
die Geburtenrate in Deutschland erholt sich langsam. Das liegt zum einen daran, dass Akademikerinnen wieder mehr Kinder bekommen und zum anderen am Zuzug. Dennoch können diese Entwicklungen den Bevölkerungsschwund nicht stoppen. Vielleicht ist gerade diese Tatsache ein Grund dafür, warum Kinder in vielfacher Hinsicht im Mittelpunkt stehen. Sie sind ein rares Gut, gewünscht und ersehnt. Zugleich ist die Kindheit eine prekäre Lebensphase.
In der vorliegenden Ausgabe der Lebendigen Seelsorge stehen Kinder im Mittelpunkt. Zunächst kommt der Kindheitssoziologe Heinz Hengst zu Wort, der im Besonderen der Frage nachgeht, welche Antworten Kinder z. B. durch ihr Tun auf gesellschaftliche Herausforderungen geben. Eine ganz andere Perspektive aus dem Bereich Kirchengeschichte stellt Hubertus Lutterbach zur Verfügung, der Aspekte des Kinderschutzes, der Kinderbildung und der Teilhabemöglichkeiten von Kindern historisch ergründet und darauf basierend Herausforderungen für die Gegenwart formuliert.
Hans-Joachim Sander geht dem Narrativ des Reiches Gottes nach und lenkt dabei den Blick auf besondere Macht-Ohnmacht-Konstellationen. Ruth Baumann berichtet vom Projekt „Circo Fantazztico“, einer Theatergruppe von Kindern und Jugendlichen aus Costa Rica. Das Interview mit der Kinder- und Jugendpsychiaterin Andrea Stippel gewährt Einblick in die Lebenswelten und die Behandlung psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher. Wie sehr Kinder gewünscht werden und welche Not es für Frauen (Paare) bedeutet, wenn diese Sehnsucht nicht gestillt werden kann, ist eine pastorale und theologische Herausforderung. Einen Einblick in diese Zusammenhänge schenkt der Beitrag von Birgit Hoyer. Dass Kinder theologisch aktiv und kreativ sind, dokumentiert der Beitrag von Mirjam Zimmermann am Beispiel einer Bibelinterpretation von LK 16,19-31.
Michael Schäfers lenkt den Blick auf ein gesellschaftliches Armutszeugnis: Kinderarmut in Deutschland und Österreich. Der Beitrag von Regina Reinart führt in ein indigenes Dorf im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, Brasilien. Sie zeigt darin auf, welche Auswirkungen Vertreibung, Gewalt, Großgrundbesitz und einhergehende Monokulturen und Massentierhaltungen für die dort lebenden Familien mit ihren Kindern haben. Markus Offner stellt die Sternsingeraktion vor, in der Kinder für Kinder aktiv werden.
Liebe Leser/innen, ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche und anregende Lektüre,
Ihre
Prof. Dr. Hildegard Wustmans
Kindheit und Zeitgenossenschaft
Eine soziologische Skizze
Studien zum Thema Kinder und Religion sind fast immer zustimmend oder kritisch auf entwicklungspsychologische Ansätze fixiert. Die folgenden Überlegungen sollen Denkanstöße für eine andere Perspektive geben. Heinz Hengst
Meine Mama sagt, dass Gott die Kinder macht‘, sagt Jennifer am Tisch.
‚Es gibt keinen Gott‘, sagt Mikael.
‚Damit kann es jeder halten, wie er möchte‘, wirft der Sozialpädagoge Hans-Erik ein. ‚Jeder kann glauben, was er will.‘
‚Glaubst Du an Gott, Jennifer?‘
‚Nein, aber es gibt jemanden im Fernsehen, der an Gott glaubt.‘
‚Es gibt keinen Gott‘, sagt jetzt auch Benny.
‚Aber früher‘, sagt Jennifer mit Nachdruck.
‚Ja in den alten Zeiten‘, schaltet sich Khalil, der libanesische Junge, ein, ‚da war es wohl so.‘
‚Aber Du, Khalil, feierst Du Weihnachten oder ähnliche Feste?‘, fragt Hans-Erik. ‚Du glaubst an Allah.‘
‚Uh-hm.‘“
( Daun, 51)
Diese kleine Konversation, die Anfang der Achtzigerjahre in einer schwedischen Kindertagesstätte aufgezeichnet wurde, ist ein guter Impulsgeber, nicht nur für das Nachdenken über Kinder und Religion, sondern ganz allgemein über Kinder und Kindheit in Gegenwartsgesellschaften.
Zunächst ist an dieser Konversation bemerkenswert, dass die Vielzahl der Bedingungen und Instanzen durchscheint, unter und mit denen Kinder heute in (west)europäischen Gesellschaften aufwachsen. Da sind die Eltern, die Gleichaltrigen, die Erzieher und die Medien. Da sind unterschiedliche Institutionen bzw. soziale Bühnen. Und da ist – als Ergebnis der Migrationsbewegungen – der multikulturelle Kontext, mit dem sich nicht nur westeuropäische Kinder in Gegenwartsgesellschaften auf die eine oder andere Weise arrangieren (müssen). Diese Instanzen und Erfahrungsräume warten mit sehr unterschiedlichen Informationen und Deutungen auf – hier zur Frage der Existenz Gottes.
Offensichtlich ist die Zeit vorbei, in der Kinder in Fragen des Glaubens und der Religion mit übereinstimmenden Vorstellungen in ihrem gesamten Umfeld rechnen konnten, Eltern, Priester, Pfarrer, Erzieher, Lehrer, Nachbarn und Gleichaltrige mit einer Stimme sprachen. Widersprüchliche Informationen und Deutungen sind für komplexe Gesellschaften charakteristisch. Unter solchen Bedingungen müssen Kinder für viele Phänomene eigene Antworten, eigene Synthesen, finden. Nicht zuletzt durch die Allgegenwart von immer mehr Medien ist das auch bei Themen der Fall, die frühere Kindergenerationen gar nicht erst erreichten. Die Folgen für die Kinder sind ambivalent: Größere Toleranz ist möglich, aber auch massive psychische Verunsicherung.
Heinz Hengst
Dr. phil habil., Professor für Sozial- und Kulturwissenschaften an der Hochschule Bremen (i.R); Arbeitsschwerpunkte: zeitgenössische Kindheit, Kinderkultur und Generationenverhältnis unter besonderer Berücksichtigung der Medien, des Konsums und des internationalen Vergleichs.
Zum Alter der Kinder, die sich an der Konversation über die Existenz Gottes beteiligen, gibt es keine Angaben. Das mag damit zusammenhängen, dass es sich um Kindergartenkinder handelt und der Autor die Altersdifferenzen für vernachlässigenswert hielt. Aber bemerkenswert ist schon, dass die Konversation die zeittypischen Rahmenbedingungen, unter denen die Kinder ihre Vorstellungen konstruieren und artikulieren, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.
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