THEMA
Von der Last ein Opfer zu sein
oder: Von der Unmöglichkeit zu vergeben
Von Doris Reisinger
Beschämte Opfer, schamlose Vertuscher und unverschämte Täter
Strange Encounters mit der unheiligen Trinität des sexuellen Missbrauchs
Von Hans-Joachim Sander
Die zentrale Erkenntnis aus den Geschichten Betroffener
Die Replik von Doris Reisinger auf Hans-Joachim Sander
Die Möglichkeit der Vergebung
Die Replik von Hans-Joachim Sander auf Doris Reisinger
Missbrauch sind immer die anderen
Von Christiane Florin
PROJEKT
Die Macht der (nicht mehr) Ohnmächtigen
Von Petra Dankova
INTERVIEW
„Transparenz, Respekt und die Wahrung von Grenzen“
Ein Gespräch mit Hartmut Niehues
PRAXIS
Auf dem langen Weg in eine nach–klerikale Kirche
Von Rainer Bucher
Sexualisierte Gewalt an Schutzbefohlenen – Kirchenrechtliche Perspektiven
Von Peter Platen
Brauchen wir eine neue Sexualmoral?
Überlegungen infolge des Missbrauchsskandals
Von Martin M. Lintner
Frauen – die Lösung des Problems?
Von Sr. Katharina Ganz OSF
Prävention sexualisierter Gewalt – eine weltkirchliche Aufgabe
Von P. Hans Zollner SJ
FORUM
Zwischen der eigenen Professionalität und einem anspruchsvollen Ehrenamt in der Krankenhausseelsorge
Von Michael Fischer
POPKULTURBEUTEL
Religion als wirksames Mittel gegen Unruhe und Bruderzwist
Von Matthias Sellmann
NACHLESE
Re: Lecture
Von Barbara Vinken
Buchbesprechungen
Impressum
Hildegard Wustmans Mitglied der Schriftleitung
Liebe Leserin, lieber Leser,
die katholische Kirche in Deutschland steckt in einer tiefen Krise angesichts der Ergebnisse der sogenannten MHG-Studie vom September 2018. Nach dem Entsetzen und der Betroffenheit sind Maßnahmen der Aufarbeitung und Veränderung auf den unterschiedlichsten Ebenen und in ganz verschiedenen Bereichen zwingend erforderlich. Die „Lebendige Seelsorge“ möchte eine Stimme in diesem Prozess sein.
Im ersten Beitrag kommt Doris Wagner zu Wort. Sie ist eine Überlebende von spirituellem und sexuellem Missbrauch. Aus dieser Perspektive ist der Beitrag geschrieben. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich ein echter Ausweg aus der Krise noch nicht abzeichnet. Hans-Joachim Sander beschreibt eine unheilige Trinität und stellt die These auf, dass strange encounters eine Möglichkeit sein könnten, den Opfern jenen Raum zu geben, der ihnen, ihren Stimmen und ihren Erfahrungen gebührt. Die Journalistin Christiane Florin lässt in ihrem Beitrag die bestürzende Strecke an Enthüllungen und die halbherzigen Reaktionen von Verantwortlichen vor Augen treten. Petra Dankova ist eine Stimme von Voices of Faith in Deutschland und stellt in ihrem Beitrag diese globale Initiative von katholischen Frauen vor. Im Interview widmet sich Regens und Sprecher der Deutschen Regentenkonferenz Hartmut Niehues aus Münster den Fragen, die den Fokus auf die Ausbildung der Seminaristen legen. Rainer Bucher zeigt auf, wie klerikale Überlegenheit in den Missbrauch führen kann. Dass auch das Kirchenrecht die Perspektive der Betroffenen einzunehmen hat und an welchen Stellen des CIC das unbedingt geschehen sollte, zeigt Peter Platen auf. Inhaltliche Änderungen sind ebenso im Bereich der Sexualmoral erforderlich. Welche Diskurse aufgegriffen und weitergeführt werden sollten, erfahren Sie im Beitrag von Martin Lintner. Die Ordensoberin Katharina Ganz lenkt den Blick auf ihre eigene Gemeinschaft und schildert, wie herausfordernd und zugleich alternativlos die Auseinandersetzung mit der Missbrauchsgeschichte in den Kommunitäten ist. Missbrauch ist ein weltkirchlicher Skandal. Der Leiter des römischen „Centre for Child Protection“ (CCP), P. Zollner SJ, stellt klar heraus, dass der Blick auf die Opfer zu lenken ist und dies gerade auch angesichts verschiedener kultureller und weltkirchlicher Systeme.
Zum Abschluss möchte ich noch auf die Re: Lecture von Barbara Vinken hinweisen. Sie erinnert, nur wenige Wochen nach dem Brand der Kathedrale von Notre Dame, an den Roman von Victor Hugo, Der Glöckner von Notre Dame. Liebe Leserinnen und Leser, ich wünsche Ihnen eine nachdenkliche Lektüre
Prof. Dr. Hildegard Wustmans
Von der Last ein Opfer zu sein
oder: Von der Unmöglichkeit zu vergeben
Das schrittweise Offenbarwerden unzähliger Missbrauchs- und Vertuschungsfälle in den vergangenen Jahrzehnten, mit immer neuen Fakten, Zahlen, Geschichten und Dimensionen hat die katholische Kirche in eine historische Krise geführt, aus der sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch kein Ausweg abzeichnet. Doris Reisinger
Wenn man sich mit den Augen eines anderen sieht und dabei so gesehen wird, wie man nicht gerne gesehen werden möchte, dann nennt man das Scham. Scham ist das Gefühl der Stunde, denn die Kirche steht so ganz anders da, als sie gerne wollte. Bischöfe beteuern, dass sie sich schämen. Priester schämen sich, Katholiken und Katholikinnen schämen sich für ihre Kirche. Alle scheinen sich in Äußerungen darüber zu überbieten, wie erschüttert sie sind, dass sie das alles gar nicht fassen können und nicht verstehen, wie das überhaupt möglich war und sich unendlich schämen.
SCHAM – DAS GEFÜHL DER STUNDE
Das Leiden an dieser Scham ist real und es wird insbesondere von Klerikern intensiv empfunden. Ein Freund erzählte mir neulich, wie ein befreundeter Priester, mit dem er über die Missbrauchskrise sprechen wollte, ihm ernsthaft den Vorwurf machte: „Du hast mich noch gar nicht gefragt, wie schwer das für mich jetzt ist.“
Manche sind da schon einen Schritt weiter. Sie haben die Scham (wenn auch nicht den Schmerz) hinter sich gelassen. Es sind Betroffene, Menschen, die sich lange geschämt haben für das, was ihnen angetan wurde, und die beschlossen haben, sich nicht mehr zu schämen, sondern zu reden. Wie gesagt, Scham heißt: Sich mit den Augen anderer so sehen, wie man nicht gesehen werden möchte. Niemand möchte dabei gesehen werden, wie er/sie missbraucht wird. Deshalb schämen sich Opfer von Gewalt, obwohl sie für diese Gewalt keine Verantwortung haben. Erst wenn sie über die erlittene Gewalt offen sprechen und erleben, dass sie in den Augen der anderen durch diese Gewalt nicht an Wert verloren haben – mit anderen Worten: erst dann, wenn Opfer Unterstützung finden –, wird die Scham gewissermaßen dahin transferiert, wo sie hingehört: zu den Tätern, Täterinnen und Wegguckern.
Was sich bei Tätern dann einstellt, ist nämlich tatsächlich Scham über ihr eigenes Fehlverhalten. Deshalb muss mit dieser Scham auch anders umgegangen werden: Ein Täter wird die Scham nicht los, indem er öffentlich über den von ihm begangenen Missbrauch spricht oder darüber, wie er unter dem Öffentlichwerden seiner Taten leidet. Ein Bischof wird die Scham nicht dadurch los, dass er darüber spricht, was ihm „angetan“ wird, wenn er für seinen Umgang mit Missbrauchsfällen befragt und kritisiert wird. Wer sich für das eigene Fehlverhalten schämt, wird diese Scham erst wieder los, wenn er/sie dieses Fehlverhalten – oder das eines Vorgängers – zugibt und korrigiert.
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