THEMA
Menschenrechtsbasierte Inklusion
Sozialethische Sortierungen
Von Andreas Lob-Hüdepohl
Semper maior: Unerschöpfliche Inklusion ohne Differenzverlust
Die Rechtfertigungstheologie als Religions- und Sozialkritik
Von Ottmar Fuchs
Auch eine Frage geschuldeter Solidarität
Die Replik von Andreas Lob-Hüdepohl auf Ottmar Fuchs
Weiterführendes zur „Inklusion“
Die Replik von Ottmar Fuchs auf Andreas Lob-Hüdepohl
Gott und Vielfalt
Von Klaus von Stosch
PROJEKT
Grenzenlos inklusiv?
Von Benedikt Drockur und Bernd Hillebrand
INTERVIEW
Von Paulus und den Pinguinen lernen
Ein Gespräch mit Caspar Söling
PRAXIS
„Auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde gewesen in Ägypten“ (Dtn 10,19)
Inklusion von Menschen fremder Herkunft im
Zeugnis des Alten Testamentes
Von Maria Häusl
Exklusive Inklusion?
Über die Bedeutung inklusiver Ausdrucksformen in Gottesdienst und Predigt
Von Maria Elisabeth Aigner
Barrierefreie Kirche? Kennzeichen inklusiver Seelsorge
Von Stefan Gärtner
Jeder bekommt das, was er braucht
Anspruch, Wirklichkeit und Möglichkeiten erfolgreicher inklusiver Schul- und Unterrichtsentwicklung
Von Janieta Bartz
Vielfalt im Stadtteil und die Möglichkeit kirchlicher Teilhabe
Von Frank Dieckbreder
FORUM
Kunst und Religion
Über den Fall einer gewollt unglücklichen
Begegnung
Von Klaus Müller
POPKULTURBEUTEL
Kann Kirche auch Plakate??
Von Matthias Sellmann
NACHLESE
Glosse: Urbi et orbi
Von Annette Schavan
Buchbesprechungen
Impressum
Hildegard Wustmans Mitglied der Schriftleitung
Liebe Leserin, lieber Leser,
Sie halten ein Themenheft in den Händen, das bewusst einen breiten Bogen im Themenfeld Inklusion spannt. Innerhalb der Debatte um den Begriff der Inklusion ist festzustellen, dass er über die Konzentration auf Fragestellungen des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne Behinderung hinausgeht. Vor diesem Hintergrund möchten wir eine grundsätzliche Auseinandersetzung darüber anstoßen, wie mit Differenz und Heterogenität gesellschaftlich, theologisch und praktisch umzugehen ist. Und in dieser Perspektive sind auch die einzelnen Beiträge dieses Themenheftes zu verstehen.
Für Andreas Lob-Hüdepohl ist der Ausgangspunkt einer Befassung mit Inklusion die Wahrnehmung von Exklusion. Nur so können menschenrechtliche Ansprüche wirksam in der Gesellschaft eingefordert werden. Ottmar Fuchs setzt bei seinen Überlegungen zum Thema an einer ganz anderen Stelle an: der Frage nach der Inklusionskraft des christlichen Glaubens. Klaus von Stosch legt argumentativ dar, was die christliche Gotteslehre mit dem Thema Inklusion zu tun hat. Maria Häusl geht in ihrem Beitrag auf die Beziehung zwischen Gemeinwesen und Differenzkriterien aus der Perspektive des Alten Testaments ein. Für inklusive Ausdrucksformen im pastoral-liturgischen Handeln plädiert Maria Elisabeth Aigner und Stefan Gärtner fragt nach Mechanismen in kirchlichen Sozialformen, die einer inklusiven Pastoral im Wege stehen. Über Debatten und Ansätze im Feld der Religionspädagogik informiert der Beitrag von Janieta Bartz und Frank Dieckbreder lenkt den Blick auf die Integration von Migrant/innen und welche Bedeutung Inklusion im sozialen Raum hat. Das Musical-Projekt der KHG-Tübingen berichtet von Differenzerfahrungen und dem Entstehen einer punktuellen Gemeinde, die zum Lernort für alle Beteiligten geworden ist. Und im Interview mit Caspar Söling wird der Fokus auf das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung am Beispiel des Sankt Vincenzstiftes in Aulhausen gelegt.
Liebe Leserinnen und Leser, ein facettenreiches Heft liegt in Ihren Händen und ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!
Ihre
PD Dr. Hildegard Wustmans
Menschenrechtsbasierte Inklusion
Sozialethische Sortierungen
Wer über menschenrechtsbasierte Inklusion redet, muss mit den Erfahrungen sozialer Exklusionen beginnen. Denn eine Inklusion von Menschen, die deren menschenrechtlichen Ansprüche in der Gesellschaft effektiv zur Geltung bringen will, ist die notwendige Reaktion auf die Erfahrung vieler Menschen, aufgrund bestimmter Eigenschaften oder bestimmter Lebensumstände von wesentlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen zu sein und damit in ihren elementaren Rechten als gleiche Bürger/innen eines Gemeinwesens beschnitten zu werden. Andreas Lob-Hüdepohl
INKLUSION: REAKTION AUF SOZIALE EXKLUSIONEN
Ausschlüsse sind eine alltägliche Erfahrung. Jede nähere Beziehung zwischen Familienangehörigen, Nachbarn, Freunden oder den Angehörigen eines Betriebes oder einer Religionsgemeinschaft schließt faktisch alle Nichtdazugehörigen aus. Sie gehören eben nicht dazu. Persönliche Verbindungen sind immer selektiv wie selektierend. Die Einladung zur Geburtstagsfeier ergeht an einen ausgewählten Personenkreis und schließt alle anderen vom Besuch der Geburtstagsfeier notwendigerweise aus.
Solche ‚soziale Schließungen‘ (Max Weber) konstituieren jene überschaubaren Beziehungsnetzwerke, die Identität stiften und die für die verlässliche Lebensgestaltung eines jeden Menschen unverzichtbar sind. Manche Ausschließungen schützen sogar die Ausgeschlossenen: Der Ausschluss von Kindern oder von hochschwangeren Frauen vom Erwerbsarbeitsmarkt dient dem Schutz ihrer gedeihlichen Entwicklung oder ihrer leiblichen Unversehrtheit. Von diesen alltäglichen und manches Mal fast überlebenswichtigen Ausschließungen unterscheiden sich grundsätzlich jene, die die Ausgegrenzten nachhaltig von lebenswichtigen Ressourcen oder von wichtigen Teilbereichen der Gesellschaft gänzlich ausschließen. Diese sozialen Ausschließungen (‚Exklusionen‘) verwehren den Betroffenen wesentliche Lebenschancen und führen oftmals in eine Abwärtsspirale von Teilhabemöglichkeiten, an deren Ende das steht, was man in der Sozialwissenschaft lakonisch ‚kumulierendes Verliererschicksal‘ nennt.
Der (dauerhafte) Ausschluss vom Erwerbsarbeitsmarkt etwa reduziert nicht nur beträchtlich das verfügbare monetäre Einkommen. Es schneidet den Erwerbslosen auch weitgehend von jenen Beziehungsnetzwerken seiner Arbeitswelt (Kollegium, Betrieb usw.) ab, in denen er soziale Anerkennung erfährt und dadurch Selbstachtung entwickelt. Beschädigte Selbstachtung wiederum belastet die Beziehungen in Familien, in Freundschaften oder auch Nachbarschaften. Sie verstärkt so die Tendenz, sich aus lebenswichtigen sozialen Netzwerken zurückzuziehen – Netzwerke, die eigentlich den primären Verlust – etwa des Arbeitsplatzes – wenigstens halbwegs auffangen könnten. Derart geschwächt schwinden für den Betroffenen seine verfügbaren Chancen, mit denen er seine politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Bürgerrechte verwirklichen kann – selbst wenn diese ihm formal immer noch zu- und offenstehen.
Andreas Lob-Hüdepohl
Dr. theol., seit 1996 Professor für Theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin; Mitglied im Deutschen Ethikrat; Berater der Deutschen Bischofskonferenz (u. a. Pastoralkommission); Vorsitzender der ad-Hoc-Arbeitsgruppe Kirche und Rechtspopulismus der deutschen Kommission Justitia et Pax.
Soziale Ausgrenzungen fallen nicht vom Himmel. Oftmals sind sie in den Strukturen unseres Zusammenlebens fest eingelagert. Sie resultieren aus sozialen Prozessen, die zwischen den ‚Opfern‘ (‚Exkludierte‘) und ‚Tätern‘ (‚Exkludierende‘) ein breites Panorama an Akteur/innen, ‚Mittätern‘ oder begünstigenden Faktoren kennen. Besonders wirkmächtig für soziale Exklusionen erweisen sich Stigmatisierungen überdurchschnittlich verletzlicher (‚vulnerabler‘) Gruppen. Stigmatisierungen liegen vor, wenn eine soziokulturell dominante Mehrheitsgesellschaft ihre kulturelle Identität oder ihren sozialen Status dadurch zu stabilisieren sucht, indem sie andere Menschen allein aufgrund eines bestimmten körperlichen, sozialen, kulturellen oder religiösen Merkmals oder einer Verhaltensauffälligkeit als Gruppe abwertet und sie von der gewöhnlichen (‚normalen‘) Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausschließt.
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