INHALT
THEMA
Braucht die Pastoral eine „Große Erzählung“?
Von Regina Polak
Inkarnative Erzählungen
Von Christian Kern
Pathos anstelle differenzierter Begriffsklärung? Eine (auch Selbst-)Kritik
Die Replik von Regina Polak auf Christian Kern
Ausschlüsse nicht ausblenden
Die Replik von Christian Kern auf Regina Polak
Narrative Theologie revisited
Von Knut Wenzel
PROJEKT
Drei Kätzchen für harte Kerle
Wie ich zum Erzähler wurde Von Gregor von Papp
Erzähl mir was …
Ein Muntermacher vertreibt den Predigtschlaf Von Ewald Huscava
INTERVIEW
„Ohne Geschichten hätte ich nicht überlebt“
Ein Gespräch mit Willi Hoffsümmer
PRAXIS
Das Markus-Evangelium als erste „Narrative Theologie“ des Christentums
Von Martin Ebner
Fabulieren statt famulieren. Eine kleine Apologie des Erzählens
Von Erich Garhammer
Game of Thrones – Die Realität in der Fiktion einer audiovisuellen Erzählung
Von Gerald Poscheschnik
Voll die Gnade? – Glaubenszeugnisse und Storytelling
Von Christian Schröder
„Toter Pfarrer – guter Pfarrer“
Von Georg Langenhorst
FORUM
Zwanzig Jahre „donum vitae“
Von Rita Waschbüsch
POPKULTURBEUTEL
Freundschaft bestätigt
Von Matthias Sellmann
NACHLESE
Re: Lecture
Von Gotthard Fuchs
Buchbesprechungen
Impressum
Jahresinhalt
EDITORIAL
Christian Bauer Mitglied der Schriftleitung
Liebe Leserin,
lieber Leser, das Erzählen boomt. Storytelling ist ein Renner unter den Managementkursen. Eine ganze Kleinkunstszene reaktiviert den Zauber des Erzählens. Werbeleute, Fotografinnen und Köche, die etwas auf sich halten, lassen ihre Produkte, Bilder und Gerichte Geschichten erzählen. Und der Begriff der Narrative hat längst den Intellektuellenjargon verlassen und ist in die politische Alltagsprache gewandert: Europa, so heißt es zum Beispiel, brauche dringend ein neues Narrativ.
Diese Konjunktur des Erzählens lässt in neuer Weise nach dem alten „Funkelstein“ (A. Stock) der Narrativen Theologie fragen, den Harald Weinrich 1973 vorgelegt und um den Johann B. Metz dann einen „magisch-apologetischen Kreis“ gezogen hat: „Und da liegt das glitzernde Oxymoron nun seit Jahr und Tag und verführt die Theologen, die praktischen vor allem, zu allerlei Aktivitäten“ (A. Stock). Es lohnt sich, dieses Konzept in die Gegenwart zu stellen und Kirche als eine entsprechende „Erzählgemeinschaft“ (J. B. Metz) zu konzipieren: „Es ist notwendig, dorthin zu gelangen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen“ (Papst Franziskus).
Dieses Heft (ver)führt an faszinierende Orte der „Erzählbarkeit des Lebens“ (A. Nassehi) in den kleinen Geschichten und „großen Erzählungen“ (J.-F. Lyotard) unserer Zeit – bis hin zu Game of Thrones. Story.one beschreibt, worum es geht: „Wir bringen das Lagerfeuer zurück in die Mitte der Gesellschaft.“ Die Chemnitzer Seite aufstand-der-geschichten.dezeigt, wie politisch das in einer von „instrumentellen Erzählern“ (B. Pörksen) polarisierten Zeit sein kann, deren Framing sich um keine Fakten mehr schert: „Das Ziel ist Wirkung, nicht Wahrheit“ (B. Pörksen).
Nichts schafft offenere Identitätskonstruktionen, als bei einem Kaffee oder einem Bier die eigene Geschichte zu erzählen. Und nichts ist spannender, als dann auch die Geschichte des Anderen zu hören. Solchermaßen gewürdigtes Leben ist ein Schatz: „Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichten erzählt“ – dieser Satz von Edward Schillebeeckx hat es für meine Frau und mich sogar zum Trauspruch gebracht. Aber das ist eine andere Geschichte…
Ihr
Prof. Dr. Christian Bauer
THEMA
Braucht die Pastoral eine „Große Erzählung“?
Wenn von einem Ende der „Großen Erzählungen“ derzeit politisch keine Rede sein kann, muss die Pastoraltheologie dann nicht über diese Frage nachdenken – trotz berechtigter postmoderner Kritik an Meta-Narrativen? Regina Polak
In seiner Geschichte Europas nach 1950 („Achterbahn“) schildert Ian Kershaw, wie nach dem Scheitern des Nationalsozialismus zunächst Kapitalismus und Kommunismus einander bekämpfen, um nach 1989 von der Ideologie des Neoliberalismus abgelöst zu werden (vgl. Kershaw, 373ff.). In seinem Grundlagenwerk „Der Weg in die Knechtschaft“ (1944) habe Friedrich Hayek die „ökonomische Theorie in eine voll ausgebildete soziale und politische Ideologie“ ( Kershaw , 389) umgewandelt, mit dem Ziel der Ersetzung des Staates durch den Markt, weil nur dies die demokratische Freiheit sichere. Bernhard Walpen wiederum belegt, wie die 1947 gegründete Mont-Pèlerin Gesellschaft dieses wirtschaftspolitische Globalisierungs-Programm weltweit strategisch durchgesetzt hat. Ökonomisierungsdynamiken transformieren heute sämtliche Lebensbereiche und Menschen ordnen sich mit bemerkenswert wenig Widerstand dieser Logik unter. Ein Ende der „Großen Erzählungen“ kann ich dabei nicht erkennen.
Auch der Geschichtsnarrativ Samuel P. Huntingtons vom „Zusammenprall der Kulturen“ („The Clash of Civilizations“) findet seit 9/11 europaweit Akzeptanz, nicht zuletzt forciert durch dessen Übernahme durch rechtspopulistische Parteien. Mangels alternativer Narrative, die die mittlerweile unübersehbar gewordenen Transformationen der Migrationsgesellschaften Europas deuten, finden Vorstellungen von angeblich unvereinbaren „Kulturen“, die miteinander in Konflikt und Kampf stünden, auch in der sog. „Mitte der Gesellschaft“ breite Zustimmung. Interpretatorische Begriffe wie „Islamisierung“, „Bevölkerungsaustausch“, „Umvolkung“ bilden hier die demokratiepolitisch und menschenrechtlich bedrohliche Spitze des Eisberges einer Gesellschaft auf der Suche nach Meta-Narrativen. Zeigt sich aber darin nicht auch ein berechtigtes Bedürfnis der Menschen, zeitgenössische Entwicklungen in größere Sinnzusammenhänge stellen zu können?
Regina Polak
geb. 1967, Dr. theol., Associate Professor am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und derzeit Institutsvorständin; Forschungsschwerpunkte: Religion und Migration, Werteforschung, sozioreligiöse Transformationsprozesse in Europa sowie interreligiöser Dialog in der Migrationsgesellschaft.
RÜCKFRAGEN AN DIE POSTMODERNE
Die Postmoderne hat zweifellos mit ihrer Kritik an „Großen Erzählungen“ unhintergehbare Erkenntnisse und Normen entwickelt. Ich verstehe mich also keinesfalls als deren Gegnerin und bin auch keine Expertin. Ihre Rezeption in breiten Teilen der Bevölkerung allerdings sehe ich mit großer Sorge. Diese hat das Entstehen eines massiven Vertrauensverlustes in Fragen nach Wahrheit und Sinn, wenn nicht ausgelöst oder forciert, so doch zumindest individualisiert und privatisiert. Die damit verbundene nihilistische Grundstimmung – dass der Einzelne seinen Sinn, seine Werte nunmehr in beständiger Anstrengung selbst setzen muss – ist für viele Menschen überfordernd und begünstigt das Entstehen von politischen und religiösen Fundamentalismen. Was bleibt, ist eine pluralistische, agonale Wirklichkeit, die gefährliche neue „Große Erzählungen“ gebiert, die um Hegemonie kämpfen. Was hat die Theologie dazu zu sagen?
Selbstverständlich sind die Postmoderne und ihre populäre Rezeption verschiedene Phänomene. Auch ich halte jede Form von „Großer Erzählung“, die vom Einzelnen Unterordnung verlangt oder gar mit politischen Macht- und Gewaltmitteln durchgesetzt werden soll, für historisch desavouiert. Erzählungen über den Sinn von Geschichte sind konstitutiv plural und stehen im Konflikt zueinander. Gleichwohl muss sich diese Denkrichtung mit Blick auf ihre Auswirkungen fragen lassen, ob sie mit ihrer fundamentalen Skepsis gegenüber „Großen Erzählungen“ und ihrer Pflicht zur permanenten Dekonstruktion nicht auch maßgeblich dazu beigetragen hat, dass sich neoliberale, kulturalistische und nationalistische Ideologien ausbreiten können.
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