Im Folgenden möchte ich einige Argumente anführen, warum man in der Theologie zumindest über die Frage nachdenken muss, ob und warum es nicht vielleicht doch „Große Erzählungen“ braucht und welchen Kriterien diese entsprechen müssten, um der postmodernen Kritik zu genügen. Dies geschieht aus einer pastoraltheologischen Perspektive mit einer Option für jene, die postmodernem Denken zum Trotz neue „Große Erzählungen“ kreieren. Ich möchte dieses Bedürfnis verstehen und pastoraltheologisch verantwortet darauf reagieren. Ich legitimiere damit weder politische oder religiöse Fundamentalismen noch stimme ich damit in das kirchliche Relativismus-Bashing ein.
ARGUMENTE
Es sind zunächst meine Forschungen im Kontext von Migration und Urbanisierung, die in mir diese Frage entstehen ließen. So ist z. B. der Ludwig-Wittgenstein-Preisträger Walter Pohl der Ansicht, dass die zeitgenössischen Migrationen übergeordnete Sinn-Narrative benötigen. In seinen Forschungen zu den „Great Migrations“ (sog. „Völkerwanderungen“) zeigt er die friedens- und ordnungspolitisch positiven Auswirkungen der christlichen Erzählung von der Einheit der Völker auf. Ohne dass dies heute in dieser Weise zu wiederholen wäre – mittelfristig hatte auch dieser Narrativ hochproblematische Auswirkungen – ist er dennoch der Ansicht, dass aus historischer Sicht jeder soziale Transformationsprozess Deutungen benötigt, die die Einzelphänomene in einem Sinnzusammenhang verstehen lassen.
Migrationen und die mit ihnen verbundene notwendige Neugestaltung des sozialen Raumes bedürfen daher auch aktuell differenzierter Wissens- und hochentwickelter Deutungssysteme: „Ohne eine solche Abstraktionsebene, die es erlaubt, ein gesellschaftliches Phänomen als Ganzes zu verstehen, ist nachhaltige Problemlösung nicht möglich“ (Pohl, 43). Ohne Meta-Deutungen mutiert die Migrationsthematik zu einer Frage politischen Managements, das (angeblich) ideologiefrei ist – oder zeugt, wie oben beschrieben, politisch gefährliche Narrative.
In seinen Überlegungen zu einer Soziologie der modernen Städte legt auch Zygmunt Bauman einen „Meta-Narrativ“ vor, indem er „die Stadt“ als Ort der „Begegnung von Fremden“ in der „flüssigen Moderne“ charakterisiert. Seine Überlegungen rahmt er zugleich selbstkritisch und ironisch mit zahlreichen Erinnerungen an die „potenziell gefährliche Angewohnheit […], über den Zustand der Welt und ihre Entwicklungen vorschnell Schlüsse zu ziehen“ (Bauman, 6) – also postmodern und pluralitätssensibel. An seinen normativen Überlegungen wird deutlich, wie unverzichtbar eine solche „Gesamtdeutung“ ist, da nur diese deren weltanschaulichen Hintergrund transparent macht und die empiristischen Fehlschlüsse verhindert, die man in der Soziologie nicht selten findet, wenn diese ethische oder politische Ratschläge erteilen.
RÜCKFRAGEN AN DIE THEOLOGIE
Aus historisch und sachlich notwendigen Gründen ist vor allem in der deutschsprachigen Theologie nach 1945 der Rekurs auf die universale Heilsgeschichte Gottes verstummt, ungeachtet der Wiederentdeckung dieser „Großen Erzählung“ durch das Zweite Vatikanum. Zu sehr waren die „Großen Erzählungen“ der Kirche geistesgeschichtlich an der Verfolgung, am Ausschluss und an der Ermordung von Millionen Menschen, nicht zuletzt der 6 Mill. Juden, beteiligt. Rudolf Englert stellt deshalb ernüchtert fest: „Die Hoffnung auf einen Gott, der die Geschichte als ganze und die Geschichte jedes Einzelnen zum Guten zu wenden vermag, ist stark erschüttert, teilweise ganz ausgeglüht“ ( Englert, 43). Auch wenn dies zutreffen sollte, ist jegliche Restauration heilsgeschichtlicher Theologien, denen man die Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts nicht anmerkt, theologisch und ethisch unverantwortbar. Zugleich finden europaweit missionarische Initiativen wie z. B. „Awakening Europe“, die die Geschichte nicht nur ausblenden, sondern Europa für das Christentum sogar „rückerobern“ wollen, kirchlich weiten Zuspruch.
Müssen daher nicht auch wir Theolog*innen uns fragen lassen, ob wir mit der Art unserer theologischen Selbstkritik nicht die Hoffnungslosigkeit der Menschen verdoppelt haben und Antworten auf die Frage nach dem Sinn von Leben und Geschichte schuldig geblieben sind? Missachten wir da nicht ein anthropologisches Grundbedürfnis? Darf man das biblische Zeugnis, dass Gott der Herr der Geschichte ist, einfach weglassen, weil es gefährliche Auslegungen mit sich bringen kann? Wie kann man dieser Spannung zwischen postmodern geläuterter Theologie, biblischem Zeugnis und menschlichen Fragen pastoral gerecht werden?
DIE BIBLISCHEN NARRATIVE ALS „GROSSE ERZÄHLUNG“?
Der umstrittene Theologe Ton Veerkamp setzt bei der Sehnsucht der Menschen nach einer „Großen Erzählung“ an und deutet sie als „Sehnsucht nach einer völlig anderen Welt“ ( Veerkamp, 421). „Ich nenne Große Erzählung eine von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder erkannte und anerkannte Grunderzählung, in der sie ihre einzelnen Lebenserzählungen mit erzählt wissen, durch die sie einen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen und so die gesellschaftliche Grundstruktur mit ihren Loyalitäten und Abhängigkeiten verinnerlichen“ ( Veerkamp, 14). Eine solche „Große Erzählung“ mache die Welt überhaupt erst bewohnbar und sei notwendig, um die Welt tatsächlich zu verändern.
Menschen brauchen Erzählungen, die sie zueinander und mit der Welt in Beziehung setzen.
Veerkamp betrachtet die Sehnsucht demnach nicht als fehlgeleitetes Bedürfnis von postmodern Ungebildeten oder Pluralitäts-Unfähigen, sondern als anthropologische und theologische Gegebenheit. Ich teile weder Veerkamps marxistische Deutung noch seinen funktionalen Gottesbegriff, aber seine Sicht auf den Menschen ist pastoraltheologisch anschlussfähig. Denn Menschen brauchen Erzählungen, die sie zueinander und mit der Welt in Beziehung setzen. Sie sind konstitutiv miteinander verbunden und auf eine gemeinsame Welt verwiesen. Wenn diese Sehnsucht nicht auch von Intellektuellen ernstgenommen wird, werden Menschen eben „Große Erzählungen“ erfinden, die Sinn und Orientierung, Zugehörigkeit und Einheit ermöglichen – sei es mit Gewalt gegen andere und auf dem Weg der Unterwerfung unter diese „Idee“ sogar gegen sich selbst. Inspiriert von Veerkamps Auslegungen sehe auch ich die Möglichkeit, sich mit den biblischen Erzählungen der Frage nach einer „Großen Erzählung“ zu nähern. Ich lese die Texte dabei praktisch-theologisch, d. h. ich sehe sie als Ausdruck des Ringens von Menschen, in den geschichtlichen Ereignissen, in denen sie sich vorfinden, Sinn und Bedeutung zu finden. Ohne die damit verbundene Lerngeschichte hier im Detail darstellen zu können (ausführlich Polak 2017), lassen sich daraus Kriterien für „Große Erzählungen“ entwickeln, die postmoderner Kritik ebenso gerecht werden wie der menschlichen Sehnsucht. Exemplarisch seien einige benannt (ausführlich Polak 2018).
Die „Große Erzählung“ der Bibel wird konkret in pluralen, konkreten und widersprüchlichen Geschichten von Menschen und Ereignissen.
Die „Große Erzählung“ der Bibel wird konkret in pluralen, konkreten und widersprüchlichen Geschichten von Menschen und Ereignissen. Diese sind widersprüchlich, zerfleddert, zerrissen, lassen Brüche erkennen und Fragen offen. Sie lassen sich nicht zu einer linearen Geschichte verallgemeinern. Erfahrungen von Sinnlosigkeit, Leid und Ohnmacht, Scheitern und Diskontinuität gehören dazu. Die Einzelgeschichten sind auch kein „Fall“ der einen „Großen Erzählung“, sondern das „Ganze“ ist im Teil zur Gänze präsent. Dieses „Ganze“ wird auch nicht von Herrschern oder Experten von „oben“ verordnet, sondern von „unten“, insbes. von Minderheiten, Marginalisierten, ehemaligen Sklaven und Fremden selbst geschaffen.
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