Ich weiß ihn nicht besser als mit einem Sturme zu vergleichen, der sich in meinem Blute erhob und mir augenblicks in alle Glieder fuhr… Damit verband sich ein mächtiges Ohrensausen, und dieses Sausen war dreifach oder vielmehr vierfach, nämlich zunächst ein dumpfes, schweres Brausen, dann ein helleres Murmeln wie von fließendem Wasser, endlich ein gelles Pfeifen, und dazu trat dann noch das Klopfen…, dessen einzelne Schläge ich leicht zählen konnte … Dieses innere Geräusch war so groß, dass es mir das feine Gehör… völlig raubte und mich zwar nicht ganz taub, aber so schwerhörig gemacht hat, wie ich es seitdem geblieben bin… Ich glaubte, ich sei tot . Jean-Jacques Rousseau
Es muss Rousseau schwer getroffen haben, als der Tinnitus zuschlug. Seine Schilderung enthält Merkmale, die noch heute für die Diagnostik eine Rolle spielen: plötzliches Auftreten, unterschiedliche Geräuschphänomene, beunruhigend wahrgenommene Lautstärke, Hörminderung, Schwerhörigkeit – bis hin zu Suizidgedanken.
Tinnitus hat es schon immer gegeben. Das belegen zahlreiche Beschreibungen von Ohrgeräuschen in literarischen, künstlerischen, medizinischen und wissenschaftlichen Werken der vergangenen Jahrhunderte.
Echo der Götter
Babylonische Keilinschriften und ägyptische Papyri erwähnen den rätselhaften Ohrenklang. Wer ihn hört, der ist vom bösen Geist ergriffen, so glaubt man. Ein vom Ohrenklingeln Befallener gilt im alten Ägypten als seherisch begabt. Sprechen durch ihn doch die Götter.
Auch das antike Rom ist anfällig für solche Vorstellungen. Obwohl man durchaus erkennt, dass Ohrgeräusche ausschließlich eine subjektive Klangwahrnehmung zu sein scheinen, herrscht doch die Überzeugung, dass eine göttliche Macht, dämonische oder magische Kräfte etwas mit dem unerklärlichen Klang im Ohr zu tun haben müssen.
Auch in der Bibel wird die göttliche Macht subjektiver akustischer Phänomene beschworen: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ (Johannes, 3,8). Im alten Griechenland beschreiben die Pythagoräer den Tinnitus genauer: „Das Echo, das mitunter unsere Ohren befällt, ist die Stimme der Besseren (Mächtigen/Götter).“
Geräuschkunde
Die Medizingeschichte des Ohrensausens beginnt mit der hippokratischen Schrift Über die heilige Krankheit (d. h. Epilepsie), etwa 450 bis 350 v. Chr. In einer anderen Schrift heißt es: „Die Ohren sausen, (der Kranke) hört schwer, die Adern sind gespannt und pulsieren …“ Zu dieser Zeit erkannte man bereits das Prinzip der Tinnitus-Maskierung: „Warum hört das Summen in den Ohren auf, wenn jemand ein Geräusch macht? Doch wohl deshalb, weil das größere Geräusch das kleinere vertreibt.“

Weltliche Musik: Das gepeinigte Ohr in der Hölle bei Hieronymus Bosch, ca. 1480–1505 (Garten der Lüste)
Der römische Dichter und Philosoph Lukrez beschreibt Ohrensausen als Begleiterscheinung starker Gefühle: „Unsere Sprache wird lallend, die Stimme versagt und das Ohr saust.“
Plinius der Ältere (23–79) prägte den Begriff „Tinnitus“, sprach auch von sonitus oder stridor und empfahl allerlei abenteuerliche Heilmittel. Die nachfolgenden 1400 Jahre Tinnitus-Geschichte wurden von dem römischen Arzt Claudius Galenus (129–199) maßgeblich beeinflusst. Er behauptete, Tinnitus werde durch Dämpfe verursacht, die vom Magen aufsteigen und das Gehör sensibilisieren.
Der griechische Arzt Alexander von Tralleis bezog im 6. Jahrhundert Ohrensausen auf eine reizbare Empfindlichkeit des Gehörsinns und auf Gehirnkrankheiten. Der persisch-christliche Arzt Johannes Me sue senior brachte im 8. Jahrhundert Ohrgeräusche mit fieberhaften Erkrankungen und Schwächezuständen in Verbindung. Um 1200 erscheint ein Lehrgedicht der Medizinschule von Salerno (Regimen Sanitas Salernitanum), dort heißt es: „Art. 5 Causae tinnitus. Motus, longa fames, vomitus, percussio, casus, ebrietas, frigus tinnitum causat in aure.“ Viele Ursachen und noch mehr obskure Therapievorschläge! Im 16. Jahrhundert behandelte Paracelsus Ohrgeräusche auch chirurgisch.

Das erste Lehrbuch der Ohrenheilkunde verfasste der französische Arzt und Anatom Joseph-Guichard Duverney.
Die Aufklärung bringt die Wende: Ich denke, also bin ich (cogito ergo sum) . Die subjektive Wahrnehmung hat nun einen hohen Stellenwert. 1683 erscheint das erste Lehrbuch der Ohrenheilkunde, verfasst von dem französischen Arzt und Anatom Joseph-Guichard Duverney (1648–1730): Traité de l‘organe de l‘ouïe, contenant la structure, les usages et les maladies de toutes les parties de l‘oreille . Die Anatomie des Ohrs wird hier akribisch in Wort und Bild abgehandelt. Er unterscheidet auch erstmals den objektiven und subjektiven Tinnitus, der demnach eine Phantomwahrnehmung ist. 1821 veröffentlicht der französische Mediziner Jean Itard (1774–1838) ein Werk über die Krankheiten des Ohres, das eine Unterscheidung von echtem (objektivem) und falschem (subjektivem) Tinnitus enthält. Besonders anfällig für Ohrgeräusche waren Itard zufolge Hypochonder!
Seelenklänge
Im 18. Jahrhundert setzt sich die aufklärerische Verinnerlichung des Tinnitus weiter fort. Nach Ansicht des Theologen Brockes gibt der Tinnitus der Seele eine Stimme: „Dass die Töne, die wir spühren. Durch die Seel‘ in unserm Ohr, und nicht auswärts, sich formiren.“ Der Philosoph Rousseau (1712–1778) gewann seinem Tinnitus sogar positive Seiten ab: „Das Klopfen und Brausen belästigte mich zwar, aber ich litt doch nicht wirklich darunter, denn es war von keiner anderen dauernden Unbequemlichkeit als der Schlaflosigkeit in den Nächten und Tag und Nacht von einer Kurzatmigkeit begleitet … Dieses Leiden, das meinen Körper hätte töten müssen, tötete nur meine Leidenschaften, und so segne ich denn noch heute täglich den Himmel für die glückliche Wirkung, die es auf meine Seele übte. Wohl kann ich sagen, ich fing erst da zu leben an, als ich mich für einen toten Menschen hielt.“ Rousseau machte seinen Tinnitus kurzerhand zum „Freund“.
Das ist fast schon eine Empfehlung für die Tinnitus-Umprogrammierung zur Bewältigung des Hörproblems. Die Empfindsamkeit des Seelenklangs findet auch Eingang in dichterische Werke, etwa bei Adalbert Stifter („innerer Klingklang“), Jean Paul („Unsere selber klingenden Ohren“) oder E.T.A. Hoffmann („dass es Ihnen im Kopfe ganz schrecklich saust und braust“).

Der Komponist Ludwig van Beethoven litt zeitlebens unter Schwerhörigkeit und Tinnitus bis hin zur Ertaubung.
Akustisches Inferno
Schlimmer erging es Musikern und Komponisten, die von Tinnitus und Hörverlust geplagt waren. Die berühmtesten Künstler, die Tinnitus als inneres akustisches Inferno erlebten, waren Beethoven, Schumann und Smetana. Insbesondere Beethoven litt schwer an Ohrgeräuschen und seiner Ertaubung: „Mein Gehör ist seit drei Jahren immer schwächer geworden … Nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort. Ich kann sagen, ich bringe mein Leben elend zu, seit zwei Jahren fast meide ich alle Gesellschaften, weil‘s mir nicht möglich ist, den Leuten zu sagen: Ich bin taub.“
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