Jahrelang wachte Versailles aufmerksam über alle Vorgänge in Freiburg, wie uns Hunderte Seiten von Agentenberichten lehren. 79Vater d’Affry dürfte die wahre Lage im Kanton Freiburg gekannt haben und sich der Anfälligkeit bewusst gewesen sein, die diese Berichte hervorheben, die aber von Amtes wegen ignoriert wurden. Er wusste besser als sonst wer, dass gewisse Reformen unerlässlich waren, wenn man das an den Ufern der Saane geltende Regime erhalten wollte. Sein Sohn würde sich diese Lektion zu Herzen nehmen und in seinem Kanton die Mindestneuerungen durchführen, die es brauchte, um das Regime am Ruder zu halten. Eine erste Gelegenheit dazu bot sich schnell, ganz als handle es sich um einen Probegalopp, mit dem Louis erstmals alle Vorteile aus den Aktivitäten des Vaters zog.
Als die Affäre Chenaux ausbrach (benannt nach dem Greyerzer Aufrührer, der an der Spitze eines Bauernaufstandes beinahe die Stadt Freiburg eingenommen hätte), befand sich Louis d’Affry in Paris. Doch gleich nach der Heimkehr im Mai 1781 «spielt er eine Schlüsselrolle in den anschliessenden Unruhen in der Stadt Freiburg, bei denen sich Adel, Patrizier und gemeine Bürger gegenüberstanden». 80Am 17. Mai 1781 warnte er den Schultheiss und Rat Freiburgs, Fürsprech Castella, einer der Anführer der Verschwörung habe soeben die Franche-Comté durchquert. Sodann stellte er gemeinsam mit anderen jungen Adligen und Patriziern seinen Degen in den Dienst der Republik. Diese als «Messieurs d’Etat» bekannte improvisierte Garde verteidigte, «um jeder Überraschung vorzubeugen», 81am 12. November 1781 das Rathaus. Dann wechselt d’Affry das Fach. Im Anschluss an die Chenaux-Revolte übernahm er 1781/82 den Vorsitz in den Versammlungen des Adelskorps und intervenierte bei den Mediationskantonen Bern, Luzern und Solothurn. Fred von Diesbach schrieb: «Das Adelskorps, wie man es damals nannte, beriet über die Berufung ihrer Sprecher. Auf diese Weise wurde Louis d’Affry ihr Hauptvertreter kraft seiner bekannten Qualitäten: Erfahrung (er ist schon 38 Jahre alt), Sinn fürs Geschäft, Takt, Mässigung; obwohl nicht in Freiburg anwesend, ging es ihm in dieser Angelegenheit weniger um den Eigennutz als den Adligen, die für gewöhnlich dort wohnten.» Der ihm eingeräumte Rang und die bei diesen heiklen Aufträgen unter Beweis gestellten Fähigkeiten brachten ihm allerdings in einer von Kleinlichkeit geprägten Kaste, aber auch in der Familie allerlei Eifersüchte ein. Sein Neffe Baron Marie François von Alt, Sohn des Schultheissen von Alt, stellt Louis d’Affry in seinen unveröffentlichten Erinnerungen vom Herbst 1792 als «einen ehrlichen Mann, hochmuterfüllt und für eine ruhmreiche Rolle wie geschaffen» dar, der «mit seiner ganzen Süffisanz» an die Spitze des Adels trat. 82Er fügt hinzu: «Sie betrachteten ihn als ihren Retter und waren ihm und seinen Fehlern zugetan, wie Ertrinkende sich an jeden Strohhalm klammern.» 83Fred von Diesbach meinte dazu: «Halten wir von diesem von offenkundiger Böswilligkeit diktierten Urteil lediglich die herausragende Rolle fest, die d’Affry in den Unterhandlungen spielte. Er wusste sich durchzusetzen, und gewillt, sich nützlich zu zeigen, ging er augenblicklich ans Werk.» 84D’Affry nahm an der Versammlung der Adligen Freiburgs teil. 85Angesichts der Böswilligkeit von Schultheiss Werro «schickten die Adligen am 7. Dezember 1781 ihre Vertreter, je zwei pro Familie, zum Grafen von Diesbach-Steinbrugg, d’Affrys Schwiegervater». Die Versammlung, in der 33 Personen tagten, darunter Louis d’Affry und sein Schwager François Pierre von Diesbach, der in die Unterdrückung der Unruhen verwickelt war, zog Bilanz über den Adelsstand und verabschiedete einen Antrag, in dem sie «Gleichheit der Aufteilung der Mandate im Einklang mit der Gerechtigkeit und dem Wohl der Republik forderte». 86Adel und Patrizier beharrten auf ihrer Position. «In dieser eigenartigen Phase der Geschichte Freiburgs» spielte d’Affry «eine beträchtliche Rolle». 87Ihm werden die heikelsten Aufgaben übertragen. So «beschlossen die neunundzwanzig Vertreter der Versammlung der Adligen, als ihnen die Schmähreden, die sich ihre Gegner im Rat der Zweihundert gegen sie erlaubten, zu viel wurden, dem Schultheissen mitzuteilen, bei der nächsten Beleidigung sollte man die Schandmäuler mitten in der Sitzung am Kragen packen, und Louis d’Affry wurde gebeten, dieses sonderbare Ansinnen im Verein mit dem vom sächsischen Hof heimgekehrten Kammerherrn Philippe Griset de Forell auszuführen.» 88D’Affry riet seinen Amtskollegen zu mehr Flexibilität und Diplomatie.
Die Verhandlungen 89schlossen am 17. Juli 1782 mit der Unterzeichnung eines «Vertrags» zwischen Adel und Bürgertum in Murten. Der Adel verlor alle ausländischen Titel und erhielt Zugang zu sämtlichen Mandaten. Das Bürgertum sollte fortan diese Titel tragen, als wäre es geadelt worden. «Die Herren haben sich vergöttlicht!», meinte dazu Friedrich II., König von Preussen und Fürst von Neuchâtel. Die «Verordnung bezüglich der Einführung der Gleichstellung der Patrizierfamilien und ihre Titelführung» 90ist ein Musterbeispiel für einen Kompromiss. Ganz im Sinne eines d’Affry. Die Vertragsunterzeichner hatten begriffen, dass «die Feststellung der vollkommenen Gleichheit aller Bürger unserer Hauptstadt, die zur Regierung fähig sind», das einzige Mittel war, «gegenseitiges Vertrauen unter den Bürgern» zu wecken, heisst es in der Präambel. Dennoch: Die Mehrzahl der Forderungen seitens der Landgegend und des ländlichen Bürgertums war abgelehnt worden. 1782 schaffte das der Adel, indem er sich auf das Bürgertum stützte, «dem er sich durch seine Grosszügigkeit und seine freundlichen Manieren sympathisch zu machen verstanden hatte. Erstaunlicherweise behielt der Adel auch dann noch seine Beliebtheit, als er seine Verbündeten und Hilfstruppen im berühmten Vertrag von Murten geopfert hatte.» 91Marius Michaud stellte fest: «Obwohl ihn damals die jedem Entgegenkommen feindseligen Patrizier verfluchten, galt Louis d’Affry in den Augen der Massen als Liberaler.» 92Für den künftigen Staatsmann war es der erste Versuch des «Unternehmens Charme». Auf gleiche Weise verfuhr er in grösserem Umfang 1802/03 anlässlich der Consulta, wo es ihm gelang, einen Grossteil der Vollmachten der Patrizier wiedereinzurichten und zugleich das brave Volk einzulullen. «Wie dem auch sei, Louis d’Affry zog aus dieser politischen Erfahrung gewisse Lehren, die sich für ihn auszahlten. In dieser recht müssigen Debatte, die sich im Grunde um eine Frage des Vorrangs drehte, gewann er Einsichten, die ihm sehr nützlich werden sollten. Er kehrte zu seinem Metier, der militärischen Laufbahn, zurück. Im Herbst 1782 geht er wieder nach Paris.» 93Anlässlich dieser Abmachungen wurde eine Liste der Mitglieder der fünfzehn als adlig anerkannten Familien der Republik verfasst. Auf ihr befanden sich fünf d’Affrys: Louis Auguste Augustin, Louis Auguste und sein Bruder Jean Pierre Nicolas, der wenig später verstarb, sowie die Söhne des künftigen Landammanns, Charles Philippe und Guillaume. 94
DER LIEBE PRÜFUNG
Im Herbst 1782 kehrt Louis nach Paris zurück. «Der Vorhang geht auf für eine andere Kulisse, die der Erfahrung der Liebe. Die Präromantik liegt in der Luft. Ein seltsames Gemisch aus Sentimentalität und Vernunft scheint an die Stelle der leichten Sitten der vergangenen Jahrzehnte zu treten. Auch Louis d’Affry entgeht nicht der lieblichen und grausamen Prüfung einer romantischen Liebe.» 95Ghislain von Diesbach erinnert sich, er sei «den Reizen von Madame de La Briche erlegen, die als junges Mädchen im Grafen d’Affry und Botschafter in Holland ein lebhaftes Gefühl erweckt hatte, aber freilich nun zu alt war, um noch Gefallen zu finden. Louis d’Affry hatte mehr Glück als sein Vater, und seine von der Gesellschaft akzeptierte Liaison mit Madame de La Briche machte ihn zu einem Romanhelden ganz nach dem Geschmack der Zeit.» 96Bei aller Diskretion, die die Familienangelegenheiten umgibt, ahnt man eine Rivalität zwischen Vater und Sohn. Überlassen wir das Wort seiner Nachfahrin, die das Thema der d’Affry’schen Liebesabenteuer mit Feingefühl und Vorsicht behandelt. «Bei Beginn seiner Romanze mit Madame de La Briche ist Louis 37 Jahre alt. Sie zählt 27 Lenze und ist mit einem viel älteren Mann verheiratet, mit dem sie eine Vernunftehe schloss, nachdem auch sie eine unglückliche Liebe hinter sich hatte. Ihr Mann kann ihr nicht die Zärtlichkeit geben, die sie braucht, aber das Paar, das ein glänzendes Gesellschaftsleben führt, gehört zum Freundeskreis der d’Affrys. Adélaïde de La Briche betört nicht so sehr durch ihre Schönheit als mit der Fülle ihrer Qualitäten. ‹Sie fällt nicht durch direkten Glanz auf, aber sie bleibt nicht lange unbemerkt. Wem sie auffällt, der fühlt sich zu ihr hingezogen, verfällt alsbald ihrem Charme und beginnt sie zu lieben.› So schildert ihre Schwägerin Madame d’Houdetout die Frau, die Louis’ Herz im Sturm erobert. Natürlich ist er nicht der Einzige, der ihrem Charme erliegt; zudem beherrscht sie, wie später Juliette Récamier, meisterhaft die Kunst, Sehnsucht zu wecken, indem sie sich verweigert, und macht jenen, die sie lieben, deutlich, dass sie ihre Gegenwart – die sie zuvor genossen, ja gesucht hat – nur erlaube, wenn sie niemals die von ihr gesetzten Grenzen überschritten!
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