Man weiss nicht recht, wer zu Beginn der Revolution tatsächlich das Schweizergarderegiment befehligte, Vater d’Affry oder Major Karl Joseph von Bachmann (1734–1792), denn Baron de Besenval ist seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis kaum noch im Rennen. Ohnehin stirbt er im folgenden Jahr. Um die administrative Seite kümmert sich im Wesentlichen Oberstleutnant Jean-Roch de Maillardoz. Als sich im Spätsommer 1789 der Sturm einigermassen gelegt hat, bemüht sich d’Affry, sein Regiment nicht vorzeitig abziehen zu lassen. Wenn Major Churchill vorbringt, «der alte Graf d’Affry, der den neuen Ideen zuneigt und offenbar zu den Freimaurern gehört, [habe] praktisch das wirkliche Kommando über sein Regiment abgelegt», 104übersieht er, dass d’Affry seine Funktionen delegiert, aber dennoch über die Elite der Schweizer Truppen in Frankreich die Oberhand behält, denn sie ist sein bester Trumpf. So weigert sich d’Affry, als das Schweizer Regiment von Unruhen erfasst wird, es trotz der «allgemeinen Verwirrung», wie Hauptmann de Loys schreibt, aus Paris abzuziehen. 105D’Affry verfügte über ein engmaschiges Netz familiärer, persönlicher und obrigkeitlicher Beziehungen. Seine ganze Familie wird herangezogen. Sein Sohn Louis, der künftige Landammann, soll als Mittelsmann zwischen ihm und Lafayette gedient haben, der die Nationalgarde befehligt und mit dem er in Briefwechsel tritt, um Befehle «für das Regiment» zu erlangen, während Marquis de Maillardoz, ein Neffe d’Affrys, darauf beharrt, sie persönlich auszuführen.
Alles in allem spielt Louis eine zurückhaltende Rolle. Aus Grenoble zurückgekehrt, nimmt er seinen Dienst bei den Schweizergarden wieder auf, wo er die 2. Kompanie des 2. Bataillons kommandiert. Man glaubt, eine gewisse Enttäuschung zu spüren. Als gewiefter Beobachter immer schwerer zu beherrschender Ereignisse entdramatisiert er, gibt sich aber keiner Täuschung hin. Am 4. November 1789 schreibt er aus Paris an seine Schwester, die Gräfin von Diesbach, nach Courgevaux: «Die Nationalversammlung hat dekretiert, der Besitz des Klerus gehöre der Nation. Das erweckt grosses Aufsehen. Die Nationalversammlung hat den Parlamenten des Königreichs jede weitere Funktion untersagt. Auch das erregt grosses Aufsehen. [...] Über vieles tröste ich mich mit den italienischen Possenreissern hinweg, die die Weltbesten sind, aber wegen Dir und der Meinigen bin ich in grosser Sorge. Radau ist mir verhasst, und ich befinde mich mitten drin», klagt er wenig später. «Ich rauche meine Pfeife und bleibe zu Hause, soviel ich kann. Es regnet in Strömen, und gleich reite ich los. Wir nähern uns der Entscheidung. Noch weiss ich nicht, welche Rolle ich in dem sich abzeichnenden Stück spielen werde.» 106Louis d’Affry scheint sich abwartend zu verhalten. Inzwischen legt er Distanz zwischen sich und Paris und kehrt erst Anfang Oktober 1790 aus dem Urlaub zurück. Am 4. Oktober lässt er seine Schwester wissen, er habe den Vater «im Grunde bei guter Gesundheit, aber doch sehr geschwächt» angetroffen. «Er braucht Ruhe, und ich hoffe, er kann sie sich verschaffen.» Doch noch ist das Schlimmste nicht vorüber. Oberst d’Affry kann fortan allmählich auch auf seinen Enkel Charles Philippe, 3. Graf d’Affry, zählen, der am 7. April 1772 in Freiburg als Freiburger Bürger geboren wurde und 1786 seine militärische Laufbahn als Kadett bei den Schweizergarden beginnt. Dort wird er am 7. April 1787 Fähnrich und danach Adjutant seines Vaters in der Dauphiné (1788/89), am 8. Juni 1789 2. Unterleutnant der Oberstenkompanie, am 22. Mai 1791 1. Unterleutnant der Generalkompanie. Anfang August 1792 wird er sich bei der Lenkung der in die Normandie entsandten Abteilung der Schweizergarden besonders hervortun.
DIE UMSTRITTENE ROLLE DER FAMILIE D’AFFRY WÄHREND DER REVOLUTION
Um den Mann, den ein Berner Offizier des Regiments Ernst 1791 «Papa d’Affry» nannte, ranken sich zahlreiche Legenden. 107Eine der hartnäckigsten, die den Beteiligten selbst während der Revolution ergötzte und die er mit Vergnügen kolportierte, ist die vom ruhmreichen, gichtgeplagten alten Trottel, der seinen Aufgaben nicht mehr nachkommen konnte. Wenn der sieche d’Affry seine Krankheit dazu benutzte, um bei Besuchern Eindruck zu schinden, hatte er sich offenbar Voltaire zum Vorbild genommen. Bis zum letzten Atemzug besass d’Affry weitgehend seine geistige Klarheit, wie Augustin de Forestier, Schatzmeister und Quartiermeister der Schweizergarden, in einem Brief vom 20. Juni 1793 an Beat Fidel Zurlauben bestätigte. 108Der kränkliche Greis verstand es hervorragend, sein Alter und seine Gichtanfälle so zu dosieren, dass er sich nicht kompromittierte oder – neben seinen persönlichen Belangen – seinen Auftrag gefährdete, nämlich die Schweizer Interessen in Frankreich zu verteidigen, kurzum: das französisch-schweizerische Bündnis, die territoriale Integrität und die Neutralität der Eidgenossenschaft inmitten des aufgewühlten Europa zu bewahren. Am 1. April 1791 wurde ihm die schwere Aufgabe übertragen, die Militärdivision von Paris und der Ilede-France zu befehligen. Wie auch immer, 1792 fiel das Alter des Generalleutnants im Verhältnis zur Unersetzlichkeit seiner Persönlichkeit kaum ins Gewicht, war er doch der einzige Schweizer, der die unterschiedlichen Tendenzen, die sowohl Frankreich wie seine Heimat spalteten, zu meistern verstand. In einem Schreiben des französischen Aussenministeriums vom 25. April 1792 (fünf Tage nach der Kriegserklärung an Österreich) wurde vorgeschlagen, «d’Affry zum Marschall Frankreichs zu ernennen und ihm die Administration der Schweizer Regimenter zu übertragen, die gegebenenfalls die Grenzen zu verteidigen haben.» 109So war dieser unersetzliche Freiburger von Versailles praktisch der einzige Schweizer, dem diese höchste Ehre für einen Soldaten zuteil wurde. 110
D’AFFRYS ENTSENDUNG NACH HUNINGUE IM JANUAR 1791 111
Damals wünschte sich Louis ein Kommando, das seinem Dienstgrad entsprach, wobei er zum Generalleutnant aufzusteigen hoffte, wie er am 12. Januar 1791 von Paris aus seine Schwester wissen liess. Er schrieb: «Die Ungewissheit des Schicksals von Herrn de B[esenval] bedeutet eine grosse Unsicherheit für das meinige. Ich werde mich je nach den Umständen verhalten.» Er reichte seinen Rücktritt aus der 17. Militärdivision ein. Am 9. Dezember 1790 wandte sich der des Stationsdienstes überdrüssige d’Affry an Kriegsminister Du Portail (Duportail) mit der Bitte um Ernennung in der Armee und er erhielt am 1. Januar 1791 die Beauftragung als Brigadegeneral in der XVIII. Militärdivision beim Oberbefehl über die im Departement Haut-Rhin stationierten Truppen. Damit befand er sich am Samstag, 22. Januar 1791, an der Spitze der Militärregierung von Haut-Rhin in Huningue. Er war dem Marquis de Bouillé unterstellt, dessen Hauptquartier sich in Metz befand und der die Rhein- und Mosel-Armeen befehligte. Du Portail empfahl ihm, «dem, was im Ausland geschieht, ebenso viel Aufmerksamkeit zu widmen wie den Grenzvorkommnissen», denn man befürchtete Umtriebe des Grafen von Artois. Bouillé seinerseits arbeitete insgeheim einen Fluchtplan für die königliche Familie nach Osten aus. Ein d’Affry in Huningue bot praktisch die Gewähr, dass sich auf dieser Seite nichts Illegales tat, aber im Fall, dass der König Erfolg gehabt hätte, konnte man sich immer noch auf die Seite des Siegers stellen. Mit der Abriegelung der Grenze zu Basel wurde sichergestellt, dass die Schweiz nicht etwa einen nunmehr verfemten König aufzunehmen brauchte, dessen Anwesenheit das subtile, regimeunabhängige Bündnis der Schweiz mit Frankreich gefährden konnte. Auf gleiche Weise reagierte Basel, als es sich im September 1792 kategorisch weigerte, das im Dienst der Fürsten stehende Regiment Châteauvieux passieren zu lassen. Die Entsendung des Freiburgers auf die französische Grenzseite war für die Basler eine momentane Beruhigung. Am 14. Januar vertraute d’Affry seiner Schwester an: «Ich reise ins Oberelsass ab, dessen Kommando ich innehabe. Die Sache ist heikel.» Fred von Diesbach schrieb dazu: «Als sich Louis d’Affry in Huningue niederlässt und dort sein Hauptquartier aufschlägt, brodelt es in der Region. Ihm obliegt es, die Ordnung aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die Grenze zu überwachen. Unverzüglich trifft er seine ersten Massnahmen und schickt in die Grenzdörfer Detachemente, die am Flussufer entlang patrouillieren. Gleichzeitig organisiert er die Nachrichten- und Befehlsübermittlung. Es müssen Unterkünfte, Wachkorps, Küchen bis hin zu Feldlazaretten eingerichtet werden, denn wenn der Soldat beim Einwohner logiert, sind die Einheiten verstreut.» 112Von Amts wegen musste er, wie er Bouillé am 13. Januar 1791 brieflich mitteilte, «sich Übelwollenden widersetzen, deren Umtriebe im Departement Haut-Rhin der Aufrechterhaltung der Ruhe schaden könnten.» 113Augenblicklich stellte er fest, dass die Bewohner «sehr geteilter Meinung» seien und die Garnison «schwach», denn dem königlichen Regiment «mangelt es an Disziplin». Am 23. Januar 1791, einen Tag nach seiner Ankunft, bat er Bouillé um die Entsendung eines Schweizer Regiments. Nun waren damals die Schweizer im Elsass ganz und gar nicht willkommen. Am 13. Oktober erklärte der Strassburger Abgeordnete in der Nationalversammlung, Etienne François Joseph Schwendt, in einem Schreiben an den Kriegsminister, zwar wünsche er sehr wohl die Verstärkung der Garnisonen im Elsass, «um dort die öffentliche Ruhe, die Eintreibung der Steuern und die Einhaltung der Gesetze sicherzustellen», doch sei er der Meinung, «diese weise und vielleicht notwendige Massnahme würde für die Bewohner unheilvoll, wenn diese Garnisonen aus Schweizer Regimentern bestünden, die alle nötigen Handwerker bis hin zu den Marketendern mitbringen und [somit] den ortsansässigen Handwerkern keinerlei Ressourcen bieten.» 114
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