Dominik war außer sich vor Erregung und rannte am Altar entlang auf Fabian zu. Gerade als er in der Mitte des Altars angekommen war, setzte der Dompfarrer den Kelch ab und leise ließen sich die Worte vernehmen: „Mein Gott, was für ein Geschenk Gottes, diese 78er Müller-Thurgau Spätlese von … der Obereisenheimer Höll!“
Dominik stand für Sekunden wie vom Blitz getroffen. Er traute seinen Ohren nicht, dabei hatte er doch ganz deutlich Obereisenheimer Höll gehört.
„Die Höll ist es! Die Obereisenheimer Höll!“, rief er hinüber zur Altarecke, wo die nächste Dommaus wartete.
Ihr Ruf „Die Obereisenheimer Höll hat er getrunken!“ pflanzte sich sogleich fort bis zur Schar der wartenden Dommäuse. Ottos Frau Kunigunde stieß einen leisen, spitzen Schrei aus und fiel mit ausgebreiteten Armen rücklings in Ohnmacht. Ihr glücklicher Gatte schlug mit der Faust in die Hand und hüpfte von einem Bein aufs andere:
„Yipiiiieee! Die Höll wars! Ich hab’ gewonnen! Ihr seid alle meine Gäste heute, ich lad’ euch ein auf Käse und Brotkrümel bis zum Umfallen!“
Längst war auch Dominik vom Altar zurück und stimmte in den allgemeinen Jubel ein. Die restliche Messe verlief ohne weitere Zwischenfälle, sieht man einmal davon ab, dass Kunigunde, kaum aus der Ohnmacht erwacht, ihrem Otto heftige Vorwürfe ob seiner Spendierfreudigkeit machte. Nachdem der Dompfarrer den Segen der Gemeinde erteilt und sich mit den Ministranten in die Sakristei zurückgezogen hatte, leerte sich das Gotteshaus schnell. Der letzte Gläubige hatte den Kirchenraum verlassen, als eine Schar lachender, tanzender Mäuse zum Grabmal des Bischofs Otto von Wolfskeel zog, vornweg auf den Schultern eine euphorische Dommaus Otto, gefolgt von seiner Frau Kunigunde, die sich die Tränen aus den Augen wischte.
Zur gleichen Zeit verließen Liebkind und die Ministranten Ronny und Fabian die Kirche. Ronny dachte noch immer an die Marshmallows in seiner Hosentasche.
Eine seltsame, nicht eucharistische Wandlung
Der Qualm der Zigarren und Zigaretten erfüllte die „Himmelsleiter“. Schweigen herrschte am Stammtisch der Philosophen, als Cora aus dem Bocksbeutel einschenkte.
„Heute gefällt es Ihnen hier wohl besser als sonst?“, fragte Cora in die Runde.
„Das liegt sicherlich an deiner Anwesenheit“, antwortete Hüpsch, ganz in den Ausschnitt der Bedienung vertieft.
„Und wohl auch an unserem Thema heute“, ergänzte Plunder.
„So? Wovon wird denn heute geredet? Darf man das wissen?“ Cora war neugierig geworden.
„Ach, das interessiert dich sowieso nicht. Nur Wissenschaftliches und Geschichtliches“, antwortete Meiseneier.
„Geschichtle hör’ ich gerne. Darf man zuhören?“
„Ich weiß aber nicht, ob dich unsere Geschichten interessieren. Es geht um ein kirchliches Thema. Um ein Spezialthema mit Christus“, versuchte Meiseneier Cora abzuwimmeln.
„Ach, mein lieber Meiseneier, lassen Sie sie doch zuhören. Das mit dem Sie wissen schon, was ich meine, können Sie ja weglassen“, bestimmte plötzlich Hüpsch den Fortgang des Gesprächs. Komm, setz dich neben mich und hör schön zu!“
Hüpsch rutschte gerade so weit zur Seite, dass Cora dicht bei ihm saß.
Meiseneier nahm seufzend den Faden wieder auf: „Meine Nachforschungen in den alten Schriften und Aufzeichnungen des Domkapitels lassen den Weg des Sie wissen schon, was ich meine, vom Heiligen Land bis nach Würzburg, abgesehen von einigen Lücken, gut zurückverfolgen. Viele alte Schriften sind zwar verbrannt oder geraubt worden, doch gibt es immer wieder Hinweise in Büchern und Schriften, die von ihm berichten.“
„Was ist das, was Sie mit dem ‚Sie wissen schon, was ich meine’ meinen?“, fragte Cora naiv, aber doch sichtlich neugierig.
„Meine Liebe, genau das darf und soll nicht bekannt werden“, versuchte Meiseneier ihre Neugier zu dämpfen.
„Aber nun weiter. Die Geschichte von Jesus und seinen Jüngern nach dem letzten Abendmahl ist uns allen bekannt. Als er von den Römern gefangen genommen wurde, hatten diese zuvor das Haus, in dem das Mahl stattgefunden hatte, durchsucht. Dabei muss ein römischer Soldat den Sie wissen schon, was ich meine, an sich genommen haben, offenbar in der Absicht, ihn zu verkaufen. Bekanntlich würfelten römische Soldaten unter dem Kreuz um Jesu letzte Habseligkeiten. Dabei ist der Sie wissen schon, was ich meine, wieder aufgetaucht, da er bei diesen Gegenständen erwähnt wird.“
Cora ließ nicht locker. „Wieso sagen Sie ‚Sie wissen schon, was ich meine’, wenn ich eben nicht weiß, was Sie meinen?“
„Nun, die Angelegenheit ist heikel und darf unter keinen Umständen bekannt werden“, wand sich Meiseneier.
„Ja, man darf nicht darüber reden, Cora“, assistierte Hüpsch, der Coras enge Nachbarschaft sichtlich genoss. „Es geht dabei, ja, was soll ich sagen, was darf ich sagen?“ Fragend blickte er in die Runde und hoffte auf Beistand.
„… um einen Potschamber“, versuchte Feuerlein zu helfen.
„Um was?“, fragte Cora.
„Einen Potschamber, einen Nachttopf“, erklärte Feuerlein ungerührt.
„Doch nicht um den, um Himmels willen, den von …?“, unterbrach Cora die plötzliche Stille.
Die Herren saßen wie versteinert. Man merkte, dass Feuerlein etwas gesagt hatte, was alles veränderte. Alle Blicke richteten sich auf ihn.
„Äh, nein, natürlich nicht“ – sichtlich entgeistert rang Meiseneier um Fassung: „Nein, Cora. Den Potschamber, der damals in dem Haus gewesen ist, also in dem Haus, wo alle waren“, versuchte Feuerlein zu retten, was noch zu retten war. Jetzt endlich hatte er begriffen, dass sein Einfall nicht gelungen war.
Meiseneier gewann die Fassung zurück:
„Sicher ist, dass ein Soldat den Pot…, äh, Sie wissen schon, was ich meine, an einen Juden von kräftiger Statur verkauft hat, der sich immer bei den Jüngern Jesu aufgehalten hatte. Es kann sich bei ihm nur um Petrus, den Fischer, gehandelt haben, da in der Bibel erwähnt wird, dass der betreffende Jünger sich kurz in römischem Gewahrsam befand, weil er einen römischen Soldaten verletzt hatte. Überdies hatte Petrus auch ein starkes Interesse, den Sie wissen schon, was ich meine, in der Gemeinschaft der Jünger zu halten und ihn nicht von Römern verschachern zu lassen.“
„Na klar, was fangen die auch mit einem Nachttopf an!“, nickte Cora.
„Da hast du sicher recht. Das kann ich mir auch nicht vorstellen“, fuhr Meiseneier fort. „Nach dem Erwerb des Sie wissen schon durch Petrus hört man lange Zeit nichts mehr von ihm, äh, dem Pot… und seine Spur verliert sich vollends in Palästina. Lediglich in einem Brief des Petrus an die Pharisäer wird er in einer Episode erwähnt. Als er unter diesen weilte, wurde er zu einem Hochzeitsmahl eingeladen. Der reich begüterte Vater der Braut richtete die Feier aus. Es wurden alle erlesenen Speisen zubereitet, die man seinerzeit kannte.“
„Ja, ich habe gehört, der Dompfarrer Liebkind habe in der letzten Predigt davon erzählt. Bratwürste mit Kraut habe es gegeben. Es habe ihn arg gebläht, den Petrus, soll der Liebkind gesagt haben“, warf Feuerlein ein.
„Das muss aber ein schlechtes Kraut gewesen sein, sicher aus der Dose. Unseres ist viel besser. Mindestens vier-, fünfmal aufgekocht. Da findet man keine Spur Vitamin mehr drin!“, warb Cora sichtlich stolz fürs Kraut in der „Himmelsleiter“.
Meiseneier schaute mit offenem Mund zwischen Feuerlein und Cora hin und her. Er verstand die Welt nicht mehr. Von was redeten die beiden bloß?
„Klar, Cora, eures ist viel besser. Aber fahren Sie ruhig fort, mein lieber Meiseneier!“, forderte er den Historiker auf.
„Nun ja, wie dem auch sei, es hilft mir nicht. Ich fahre nun fort mit meinen Ausführungen: Bei der Hochzeit wurde weder an edlen Gewürzen aus fernen Ländern noch an weiteren kostbaren Zutaten gespart. Nur der beste Wein des Landes wurde aufgetischt.“
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