Jurgis Kuncinas - Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons

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Eigentlich wollte Motiejus, ein Lebenskünstler in den Vierzigern, nur mit dem Bus von Zverynas nach Uzupis fahren – zwei Stadtteile der litauischen Hauptstadt Vilnius, die durch die Linie 11 miteinander verbunden sind. Während Zverynas eher kleinbürgerlich-spießig ist, entwickelt sich das ärmliche Uzupis seit der Wende immer mehr zum Magneten für Künstler und Bohemiens. Auch Motiejus' Freundin Nabe, von ihm liebevoll «Schlafmaus» genannt, träumt davon, in Uzupis einen Literatursalon zu eröffnen. Hervorragend geeignet wäre die «Blanchisserie», eine ehemalige Wäscherei am Flussufer, die inzwischen jedoch hoffnungslos heruntergekommen ist. Und was eigentlich eine Wohnungssuche werden sollte, entwickelt sich für Motiejus und seine Freunde zu einer abenteuerlichen Fahrt durch das im Aufbruch befindliche Litauen, zu einer Reise durch die Zeit und zu einem bunten Karneval skurriler Ereignisse …

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Jurgis Kunčinas

Blanchisserie

oder

Von Mäusen, Moder und Literatursalons

Roman

Aus dem Litauischen von Berthold Forssman

ATHENA

Literatur aus Litauen

Band 12

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert von Bücher aus Litauen mit - фото 1

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert von »Bücher aus Litauen« mit Mitteln des Ministeriums für Kultur der Republik Litauen und dem Deutschen Übersetzerfonds e.V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über abrufbar.

Die litauische Originalausgabe erschien 1997 bei Tyto alba, Vilnius unter dem Titel »Blanchisserie, arba Žvėrynas – Užupis. Romanas«.

E-Book-Ausgabe 2014

Copyright © 1997 by Jurgis Kunčinas

Copyright © der deutschen Ausgabe 2004 by ATHENA-Verlag,

Copyright © der E-Book-Ausgabe 2014 by ATHENA-Verlag,

Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat, Umschlagfotos: Katja Niehörster

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-196-7

ISBN (ePUB) 978-3-89896-856-0

Erster Teil: Glis, Glis

1

Ich saß in einem schäbigen Straßencafé in Žvėrynas. Die Pfützen reflektierten den fahlen Himmel, und in meiner Kaffeetasse spiegelte sich mein heiteres, jedoch von niemandem geliebtes Gesicht. Die Meise, die sich auf dem Plastiktisch niedergelassen hatte, wollte mir etwas vortragen, rutschte aber in einer Kaffeelache aus, stibitzte noch rasch ein Bröcklein Käse und schwirrte auf und davon.

Ich hatte vor, mich heute auf den Weg hinüber nach Užupis zu begeben, um dort für Nabė eine Höhle zum Überwintern aufzutreiben, das hatte ich ihr nämlich versprochen. Sie wollte eine billige, aber separate Wohnung, um dort ihre Gäste empfangen zu können, darunter manchmal auch mich. Ihr großer Traum war, einen legalen Literatursalon aufzuziehen – jetzt war ja alles legal! –, mit künstlerischen Darbietungen, echten Klageliedern, Blut und Tränen. Es würde verrückt, aber interessant werden, hatte sie gesagt. Ich hatte ihr kein Wort geglaubt, ihr jedoch versprochen, nach Užupis zu fahren. Dazu hatte ich alle Zeit der Welt, und natürlich würde ich nicht zu Fuß gehen. Ich hätte jetzt zwar mit der Obuslinie 3 bis zur Kathedrale fahren können, aber die Busse waren um diese Zeit noch brechend voll.

Tecka, der Bürgermeister von Žvėrynas, setzte sich zu mir an den Tisch, stürzte in zwei Zügen seinen Kaffee hinunter und eilte wieder davon, schaffte es aber in der kurzen Zeit noch, mir mitzuteilen, dass am Tag zuvor Ogoniokas hungers gestorben sei. Ich glaubte ihm: Vor nicht allzu langer Zeit war dieser noch an meinem Fenster erschienen und hatte mich gebeten, ein Buch von Gercen zu kaufen: »Das wird dir nützen!« Er war aufgedunsen und gelblich wie der Mond im Nebel gewesen, arbeiten konnte er nicht, stehlen kam auch nicht in Frage, und so war er gestorben, obwohl ich ihm ein halbes Brot und ein Stück gekochtes Rindfleisch gegeben hatte.

Aber nun war es höchste Zeit zu verschwinden: Čigonas war im Anmarsch, bestimmt würde er mich um einen halben Litas anpumpen. Und auf der anderen Straßenseite hing Golosačius herum, garantiert würde er mich fragen: »Wie wär’s mit ’nem Bier?« Ich musste noch nach Hause laufen und mir andere Schuhe anziehen, bei den vielen Pfützen! Und dann würde es wohl am einfachsten sein, gegenüber vom Zeitungskiosk auf den Bus der Linie 11 zu warten und an zahlreichen idiotischen Ampeln erst am Fluss entlang und dann an der St.-Anna-Kirche und an der Bernhardinerkirche vorbeizufahren, bis zu meinem Ziel, nach Užupis, dem Paradies des gepantschten »Royal« und des »Ameisenspiritus«, das Lieblingsgetränk der so genannten Kunstmenschen.

Vor meinem inneren Auge sehe ich mich schon auf diesem gewundenen Pfad: Auf der einen Seite steht die Akademiebibliothek, und durchs Busfenster fällt der Blick nicht nur auf ein Chinarestaurant, sondern auch auf das »Ei des Philosophen«, eine meisterhafte Plastik aus glatt poliertem Stein; der Künstler hat irgendwann zugegeben, dass nur die Rüstungsindustrie in der Lage sei, einen Labrador so abzuschleifen. Vielleicht sollte ich mich leicht davor verneigen, aber der Bus klappert und wackelt ständig, während er über die Kreuzungen im Herzen von Vilnius fährt, der Stadt des Gediminas. Auf dem Ungetüm von Fahrzeug steht, wo es herkommt: Es ist ein Geschenk der Stadt Oslo an unsere heruntergekommene Metropole. Man entsinne sich der vergleichenden Sprachwissenschaft, die Beschriftungen machen die Zugehörigkeit des Norwegischen zur germanischen Sprachgruppe deutlich: »Udgang« bedeutet das Gleiche wie deutsch »Ausgang«. Übrigens kann man in den Bussen, die uns die Deutschen geschenkt haben, gleich auch noch Griechisch und Türkisch lernen, die dortigen Gastarbeiter sollen schließlich wissen, wie hoch die Bußgelder in Deutschland sind! So viel zum Thema Sprachen und Sprachwissenschaft.

Indessen brennt es nirgends, und ich habe wirklich genug Zeit. Literatursalons können über Jahrzehnte hinweg schöpferisch tätig sein, aber man redet erst über sie, wenn definitiv der letzte ihrer Dichter das Zeitliche gesegnet hat. Ich werde das nicht mehr erleben, sie sind alle noch jung, und es besteht keine Veranlassung zur Eile. Also kümmere ich mich lieber um mein Hemd, das ich wieder in die Hose gestopft habe, und überlege, ob ich Triksė, genannt Grand Trix, anrufen soll und sie frage, was Mäusespeck auf Dänisch oder auf Norwegisch heißt, so etwas weiß sie bestimmt. Außerdem muss ich meine Hose zumachen, den Fensterladen fest schließen, die nicht vorhandenen Gänse füttern und frisches Wasser aus dem Brunnen holen. Da sind lebende Salamander drin, die die ergraute Pania »Jaszczericy« nennt, obwohl unter dem Grundwasserspiegel von Žvėrynas vermutlich eher irgendwelche Blutegel leben. Ich glaube, dass sie gesundem Denken nicht abträglich sind und vielleicht ganz nebenbei sogar helfen, den Blutdruck zu senken. Wie sie sich wohl vermehren?

Das kalte Wasser tut gut, besonders wenn man ein bisschen verkatert ist, und so wird es hoffentlich auch diesmal seine Wirkung tun. In dieser Hinsicht ist der Bus wirklich ein sicherer Ort, es gibt dort nicht einmal ein Büfett, allerdings bietet einem dort ab und zu jemand etwas an. Neulich war es die sympathische Dozentin Onega Mažgirdas; sie trinkt selbst nichts, schleppt aber immer eine Flasche Kräuterschnaps »Trejos devynerios« oder »Bittnerio balzamas« mit sich herum, und wer ganz lieb »bittebitte« sagt, bekommt einen Schluck, sogar Hoffnungsträger unter den Studenten wie Nabė oder Bul Bul.

Dann schiebe ich mich auch schon mit dem Bus Nr. 11 über die Brücke von Užupis, gleich beim »Tėvo kapas«, und da sehe ich mit eigenen Augen das Schild, das durch einige Schichten Putz fragmentarisch wieder zum Vorschein gekommen ist und mir noch zum Verhängnis werden soll. Man erkennt Bruchstücke älterer Inschriften: »Blanchisserie« * »Waschanstalt« * »Užin« * »Obed« [1], und da weiß man, dass man wirklich in Užupis ist.

Grau ist dieses Užupis und ärmlich, aber Kunstmenschen sind sensibel und haben eine lebhafte Phantasie, und so stellen sie sich vor, dass keine hundert Jahre mehr vergehen werden, bis … Lass gut sein, alter Knabe! Farbe gibt es in Užupis immer weniger, das Haus von Tula hat man in eine ungemütliche Werkstatt umgewandelt, die Leichenhalle ist in die Nordstadt verlegt worden, und die onkologischen Schlachthöfe heißen jetzt »Klinik zur Krebsvorsorge«. Trotzdem zieht es alle hierher, ich verstehe nicht ganz warum. Mir wird dieser Stadtteil immer fremder, und ich finde es ziemlich verlogen, wenn man um übel riechende Buden, um ödes, brachliegendes Gelände, das nur noch als Flohmarkt genutzt wird, oder um bankrotte Tante-Emma-Läden, Kaschemmen und nach Mäusen riechende Keller und Dachböden trauert. Alle Neuerungen wirken in diesem Užupis wie unheimliche Fremdkörper oder Prothesen, mehr als anderswo. Und umso heftiger jammern die Kunstmenschen, werden wütend und lutschen an dem süßlichen, feuchten Wort »Melancholie« wie an einer weichen Pflaume. Ach, immer dieser Dürer: Diesmal ähnelt er dem lockigen Künstler aus Bulgakovs Stück über Molière …

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