Mystische Wahrnehmung des Lebens
Generell geht es in den Exerzitien darum, das Leben Jesu ebenso wie das eigene Leben von innen her zu verspüren und verkosten („sentir y gustar de las cosas internamente“, EB 2). Das meint einerseits ein ganzheitliches Geschehen, in das rationale und emotionale Kräfte des Menschen gleichermaßen eingebunden sind. Es bedeutet andererseits ein Durchdringen der äußeren, kategorialen Ereignisse und ein Wahrnehmen ihrer Innenseite: Wie „schmeckt“ Jesu Umgang mit den Menschen? Welchen „Geschmack“ haben die eigenen Aktivitäten und Erfahrungen? Wo lässt sich in beiden das Geheimnis Gottes erahnen?
Das Verkosten geschieht durch die Anwendung aller fünf Sinne (EB 65–72; 121–126) als Teil jeder Kontemplation bzw. Meditation 25. Nach einem Vorbereitungsgebet geht es um den „Aufbau des Schauplatzes“ (EB 47; 49), d.h. die Vorstellung des Ortes und der Umstände, die ein bestimmtes Geschehen ausmachen, vor dem inneren Auge. Nachdem man erbeten hat, was man in der konkreten Betrachtung begehrt, folgt die eigentliche Meditation mit allen vorhandenen geistigen und emotionalen Kräften: Mit Gedächtnis, Verstand und Willen (EB 45–54). Die in EB 2 angezielte Innerlichkeit wird also durch eine bestimmte Gestaltung der äußerlichen Wahrnehmung vermittelt. Ungegenständliche Gotteserfahrung ereignet sich nach Ignatius nicht nach, sondern in gegenständlicher Welterfahrung. „Solche indiferencia wird zu einem Gott-in-allen-Dingen-suchen.“ 26Das ist eine pointiert neue Sicht christlicher Kontemplation.
Ignatius nennt drei Weisen zu beten (EB 238–260): Die „erwägende und überlegende“ (EB 241) Betrachtung eines Schrifttextes – eine stark verstandesgesteuerte Methode (EB 238–248); das Betrachten des Sinnes eines einzigen Wortes, das bedacht, verkostet und in seinem Trostpotenzial empfunden wird – eine ganzheitliche Methode, die rationale und emotionale Kräfte umfasst und letztlich auf den Trost zielt (EB 249–257); und das Verinnerlichen eines Wortes, indem man es im Rhythmus des Atems betet – eine Variante des Jesus-Gebets, die vor allem die emotionalen Kräfte zum Zug kommen lässt (EB 258–260). Dabei geht es nicht um eine „prozessuale Steigerung der Methodik, wie Jalics (…) erschließt“ 27, so dass das Jesusgebet die höchste und eigentliche Form des Betens wäre. Vielmehr bleiben alle drei Weisen dauerhaft wichtig, um alle Kräfte des Menschen in einer Einheit zu halten und auf Gott auszurichten. Die Kontemplation des Ignatius ist damit nicht weniger, sondern mehr geeignet, in die Passivität des Geschehenlassens hineinzufinden, als die Kontemplationsmethode der monastischen Tradition. Denn es sind die passiones, die Passivität ermöglichen, nicht der stets aktive und steuernde Verstand und auch nicht die Leere, die entsteht, wenn Verstand und Gefühle gleichermaßen losgelassen werden. Gleichzeitig bleiben die verstandesbetonten Formen des Betens wichtig, um ein Abgleiten in völlige Subjektivität zu verhindern.
Die Konsistenz des ignatianischen Kontemplationsverständnisses
Frank Houdek und manche anderen Vertreter des monastisch (und fernöstlich) inspirierten Kontemplationsverständnisses messen die ignatianische Kontemplation an ihrer eigenen Methode. Unter dieser Perspektive muss Ignatius verlieren. Mir scheint ein anderer Weg überzeugender: Sowohl die klassische monastische als auch die ignatianische Methode der Kontemplation müssen sich messen lassen an einer ganzheitlichen personalen Anthropologie. Dann aber schneidet Ignatius mit seiner Orientierung an der aristotelischen Anthropologie des Thomas von Aquin wesentlich besser ab als das stoisch-neuplatonisch geprägte frühe Mönchtum. Aus seiner Methode kann ein ganzheitliches Verständnis der Gotteserfahrung erwachsen – einer Erfahrung der Liebe und Ganzhingabe an das geheimnisvolle Du, das uns in der Welt und durch sie hindurch begegnet und in das sich der spirituelle Mensch fallen lässt.
Lesetipp der Redaktion
aus dem Online-Archiv: echter.de/zeitschriften/geist-und-leben
Richard Gramlich,Indifferenz. Eine Haltung der islamischen Frömmigkeit, in: GuL 62 (1989), 241–245.
1. K. Rahner, Die ignatianische Mystik der Weltfreudigkeit, in: Zeitschrift für Azsese und Mystik (später Geist und Leben) 12 (1937), 121–137 (nochmals abgedruckt in: Ders., Schriften zur Theologie. Bd. 3 [1956], 329–348).
2. F. Houdek, Die Grenzen des ignatianischen Gebets, in: GuL 84 (2011), 294–305, hier: 298.
3. Ebd., 297.
4. Ebd., 302.
5. Ebd., 299.
6. Ebd., 298.
7. Ebd., 303.
8. Vgl. G. Bunge, Evagrios Pontikos: Der Praktikos (Der Mönch). Hundert Kapitel über das geistliche Leben. Beuron 32011, 68.
9. Ebd. Gegen A. Grün, Apatheia – die Gesundheit der Seele. Evagrius Pontikus, in: G. Popp (Hrsg.), Damit unser Leben gelingt. Geistliche Grundhaltungen, die uns einen Weg zeigen. Regensburg 1993, 58–66, hier: 61, der Apatheia als einen „Zustand, in dem die Leidenschaften miteinander im Einklang sind“, definiert.
10. Vgl. J. E. Bamberger, Einführung in die asketische und mystische Theologie des Evagrius Ponticus, in: Evagrius Ponticus, Praktikos. Über das Gebet. Münsterschwarzach 1986, 8–23, 16.
11. Ebd., 12.
12. Ebd., 13.
13. F. Jalics, Die kontemplative Phase der ignatianischen Exerzitien und das Jesusgebet, in: GuL 71 (1998), 11–25; 118–131.
14. W. Jäger, Der Weg des Evagrius Ponticus, in: ders., Kontemplation. Ein spiritueller Weg. Freiburg 22012, 35–42.
15. Dieses Problem übergeht der ansonsten höchst präzise und kenntnisreiche Beitrag von G. Ziegler, Erblindung und Erleuchtung des inneren Auges. Johannes Cassian über Wege und Irrwege zur Schau Gottes, in: L. Eibicht / J. Kaffanke / C. Schäfer (Hrsg.), Das Schauen Gottes wiedererlangen. Die Kontemplation als Herz des Mönchtums. Beuron 2012, 122–140.
16. Zumindest für Johannes Cassian hält B. McGinn, Die Mystik im Abendland. Bd.1: Ursprünge. Freiburg i. Br. 1994,327 fest: „Cassian hat keine klare und kohärente Lösung für das Problem des Verhältnisses von kontemplativem Aufgehen in Gott und tätiger Liebe zum mönchischen Nächsten entwickelt.“ Und auf F. Jalics, Die kontemplative Phase der ignatianischen Exerzitien und das Jesusgebet , 13 [s. Anm. 13] erwidert J. Sudbrack, „Gott finden in allen Dingen“. Christliche Kontemplation und ignatianische Exerzitien, in: GuL 71 (1998), 362–375, hier: 365: „Es geht nicht um Hinter- oder Neben-, sondern um ein Ineinander (…) von Gotteserfahrung und Erfahrung der anderen ‚göttlichen Dinge‘.“
17. F. Houdek, Die Grenzen des ignatianischen Gebets, 302 [s. Anm. 2].
18. K. Rahner, Die ewige Bedeutung der Menschheit Jesu für unser Gottesverhältnis, in: ders., Schriften zur Theologie. Bd. 3 (1956), 47–60, hier: 56.
19. G. Bottereau, Indifference I. L’indifférence ignatienne, in: DSp 7 (1971), 1688–1696, hier: 1689. Ins Deutsche übersetzt in L. Zodrow [s. Anm. 21].
20. Ebd.
21. L. Zodrow, „Prinzip und Fundament“. Eine ignatianische Kurzformel für den Vollzug des geistlichen Lebens, in: GuL 58 (1985), 175–191, hier: 181–182.
22. A. Rayez, Indifférence II. L’indifférence aux 17e et 18e siècles, in: DSp 7 (1971), 1696–1708, hier: 1707. Ins Deutsche übersetzt in L. Zodrow [s. Anm. 21].
23. Vgl. dazu M. Rosenberger, Mit beherzter Vernunft. Fühlen und Denken in ihrer Bedeutung für das sittliche Urteil, in: MThZ 52 (2002), 59–72.
Читать дальше