– Die algerischen Märtyrer erinnern: Die Feindesliebe ist der Kern des Evangeliums. In seinem geistlichen Testament spricht Christian de Chergé seinen Mörder, den er auf sich zukommen sieht, an und nennt ihn „Freund der letzten Stunde“. Solche Feindesliebe ist nicht zu „verstehen“. Sie verweist auf Christus, der am Kreuz vergibt. Liebe ist stärker als Hass.
– Die Mönche von Tibhirine, und gewiss auch die anderen algerischen Märtyrer, machten sich viele Gedanken darüber,was Mission in ihrer konkreten Situation bedeuten könnte. Sie interpretierten den Auftrag Jesu als schlichte, gläubige Präsenz, als Solidarität mit der armen Zivilbevölkerung, die unter dem Bürgerkrieg am meisten zu leiden hatte. Das Konzept der unspektakulären, dienenden Präsenz steht im Gegensatz zu ostentativen, manipulationsanfälligen Bekehrungskampagnen und sollte im Spektrum von Missions-Initiativen auch hierzulande nicht fehlen.
Die Kirchen im deutschsprachigen Raum stehen derzeit vor anderen Herausforderungen als in Algerien. Und doch kann das Glaubenszeugnis der algerischen Märtyrer inspirieren, das Christusereignis ins Hier und Heute neu zu übersetzen.
Felix Körner SJ | Rom
geb. 1963, Dr. theol., Dr. phil., Professor für Dogmatik und Theologie der Religionen an der Päpstlichen Universität Gregoriana
koerner@unigre.it
Spiritualität als Weltverantwortung
Muslime und Christen in Deutschland 1
In die Verantwortung gerufen
Gott ruft uns in die Verantwortung. Mit diesem Satz erkläre ich gern, was der Koran den Menschen sagt. Gott ruft uns in die Verantwortung. Was bedeutet das? Der Koran führt uns eine Gottesbegegnung am Ende der Geschichte vor Augen, und zwar drastisch: Er zeigt eine Gerichtsszene. Gott wird uns Fragen stellen. Damit zieht er uns zur Rechenschaft. Sogar einige der Rechenschaftsfragen hören wir im Koran; etwa die, was wir im Laufe unseres Lebens mit unseren Sinnen angefangen haben, mit Sehen und Hören – und wie wir unseren fu’ād gebraucht haben, also „Herz und Verstand“ (al-Isrā’ 17:36); und Gott wird uns dem Koran zufolge fragen, ob wir treu zu unseren Verpflichtungen gestanden haben, besonders gegenüber den Bedürftigsten (al-Isrā’ 17:34). Gott fragt nicht, weil er es nicht wüsste, sondern weil wir selbst wissen können und einsehensollen, was gut ist. Denn: Gott ruft uns in die Verantwortung. Das heißt also erst einmal, es geht um die Beantwortung von Fragen; und natürlich nicht nur um Antworten am Ende der Zeit. Über das Geschichtsende spricht der Koran, damit wir uns die Frage schon heute stellen: Wie gehst du mit deinen Lebensmöglichkeiten um? 2
Gott ruft uns in die Verantwortung – das ist aber keine Drohung, die uns in unserer Entfaltung blockieren will. Das ist nicht der Sinn der koranischen Gerichtsworte; und das wäre auch genau die Falle aus dem Talente-Gleichnis Jesu. Darin erzählt er von drei Dienern; der dritte von ihnen hat sein „Talent“, das ihm anvertraute Geld, vergraben, statt es zu investieren und etwas zu riskieren. Als dieser Diener zur Verantwortung gezogen wird, begründet er sein Handeln so – oder besser, sein Nicht-Handeln: „Weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt“ (Matthäus 25,25). Jesus zeigt, dass eine solche Angst eine missverstandene Ehrfurcht wäre. Nein, Gott ruft uns nicht in eine Gerichtsangst, die uns verschließt. Er ruft uns vielmehr in die Verantwortung, damit wir jetzt in „Sorge für das gemeinsame Haus“ leben. So hat es Papst Franziskus ausgedrückt. In seiner Umwelt-Enzyklika ruft auch er uns in die Verantwortung–vor den jungen Menschen; denn sie werden die Folgen unserer Unverantwortlichkeit zu tragen haben. Er ruft uns in die Verantwortung vor allem gegenüber den Armen; denn die in der größten Not haben auch am meisten an unserer Gedankenlosigkeit zu leiden. Papst Franziskus lädt uns deshalb „zu einem neuen Dialog ein über die Art und Weise, wie wir die Zukunft unseres Planeten gestalten“ (Laudato si’, Nr. 14). Gestalten! Das heißt: nicht erstarren aus Angst vor der Rechenschaft; sondern lernbereit, gesprächsbereit, risikobereit und korrekturbereit für diese Welt sorgen – das ist die Verantwortung, in die Gott uns ruft.
Unsere Verantwortung Gott gegenüber macht uns also welt-verantwortlich, verantwortlich vor unseren Mitmenschen. So sehen wir uns auch als Christ(inn)en und Muslime in eine Verantwortung voreinander gerufen. Nicht, dass wir immer in der Verteidigung wären, sondern: Weil Gott uns in die Verantwortung stellt, packen wir miteinander die Herausforderungen an, denen wir als Gesellschaft in Deutschland und als Land in Europa gemeinsam gegenüberstehen, aber auch die Herausforderungen aufgrund der Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen. Verantwortlich heißt hier immer: Uns ist diese Welt anvertraut. Sie haben wir als die, die wir sind, mit unseren verschiedenen Lebens- und Denkweisen, zusammen zu schützen und zu entwickeln.
Verantwortungsträger vor Lebensentscheidungen
Nun spüren wir allerdings, dass viele unserer Zeitgenoss(inn)en ihr Leben nicht nur anders von Gott her verstehen, sondern gar nicht von Gott her verstehen. Sie verstehen sich vielmehr als nicht gläubig. Sie halten eine Weltdeutung aus dem Glauben mitunter für überholt. Wie gehen wir damit um? Ein junger Islam-Theologe aus Ankara hat mir vor Jahren erzählt, wie es ihm erging, als er – in München – seinen ersten leibhaftigen Atheisten traf. Er gestand mir, dass er sich gefragt hatte: Wie kann man so blind sein, nicht zu glauben? Das klingt vielleicht hochmütig, war aber vor allem ein Zeichen dafür, was diese Begegnung in ihm ausgelöst hatte: Er empfand sich herausgerissen aus der Selbstverständlichkeit des Glaubens. Das kann uns verunsichern. Die Begegnung mit Nicht-Gläubigen kann uns jedoch auch dankbar machen für das Geschenk, dass wir glauben können; so kann uns das Bewusstsein, dass es nun einmal auch Nicht-Gläubige gibt, bescheidener machen. Und wenn Gott uns in die Verantwortung ruft, heißt das: Wir müssen lernen, unseren Glauben und seine Handlungsfolgen zu erklären; anderen zu erklären – Menschen, die wirklich anders sind als wir, anders denken, anders leben, anders glauben, oder eben gar nicht glauben. Das ist die Welt, in der wir heute gläubig und glaubwürdig zu sein versuchen: die Welt der religiösen, weltanschaulichen Vielfalt.
Nun gibt es aber noch eine weitere Art von Verantwortung – neben der aufrüttelnden Frage Gottes und der lernbereiten Gestaltung der Welt miteinander. Gott ruft uns in die Verantwortung – das zeigt sich auch darin, dass viele von Ihnen Aufgaben haben, die folgenschwere Entscheidungen verlangen. Sie haben Einfluss auf das Leben vieler. Sie sind an Schaltstellen tätig. Sie „haben Verantwortung“ in diesem Sinn. Deshalb sage ich nicht nur „Gott ruft uns zur Verantwortung“, sondern „Gott ruft uns in die Verantwortung“: Er hat uns an Orte gestellt, an denen es auf unsere Klugheit ankommt, an denen wir Entscheidendes ermöglichen können: Wo wir Gutes bewirken können, aber auch das, was sich dann als verkehrt herausstellt; wo wir erheblichen Schaden anrichten können. Das gehört zur Verantwortung.
Wo wir unsere Verantwortung spüren, fragen wir uns deshalb auch, ob wir richtig entscheiden. Als Gläubige in Verantwortung lautet die Frage: Wählen wir wirklich das, was Gott will? Sind wir, auch wo wir gar keine große Entscheidung anstehen sehen, seinem Willen treu? Und: Wie können wir das herausfinden? Hier helfen uns natürlich unsere jeweiligen heiligen Texte. Von der Ur-Kunde unseres Glaubens wollen wir uns mehr und mehr prägen lassen. Sie schenkt uns Orientierung. Jedoch gibt sie selten die unmittelbare Antwort für heute. Jede(r) von uns steht vor Weichenstellungen und fragt:Was ist der bessere Weg für mich und meine Gemeinschaft und für unsere Gesellschaft? Wieviel Anpassung ist notwendig, und wieviel Abgrenzung? Wer ist die richtige Person für diese oder jene Aufgabe? Welche Menschen übersehen wir gerade, welche Entwicklungen, welche Gefahren und welche Chancen? Dabei scheint es mitunter, dass andere sich ihrer Sache sicherer sind als wir selbst. Voller Überzeugung behaupten sie: „So muss es gemacht werden, das ist Gottes Wille!“ Und dann stellt sich nicht selten heraus, dass sie falsch liegen. Nicht wer am lautesten daherkommt, nicht wer den Gotteswillen oder das Schriftwort klar verstanden zu haben behauptet, hat deshalb schon recht.
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