In der Folgesaison setzte sich Matthies dann als einer von insgesamt fünf Torleuten durch, nach dem Wiederaufstieg ist er ab 1976/77 auf Jahre die unangefochtene Nummer eins im Tor der Eisernen. Sein erstes Pflichtspiel indes bestritt er fast vier Jahre nach dem Debüt seines späteren Kapitäns, Joachim Sigusch …
Der wurde am 31. Oktober 1947 in Kirchmöser bei Brandenburg geboren und trat ab 1958 bei Lok Kirchmöser gegen den Ball. In seinem Heimatverein reifte er zum Juniorenauswahlspieler heran. 1967 holte man ihn in den Bezirk Magdeburg, zur BSG Lokomotive Stendal, in jenen Jahren kein unbekannter Name im DDR-Fußball. 1956 war Lok Vierter der Oberliga-Abschlusstabelle geworden, nach zahlreichen Ab- und Aufstiegen spielte die BSG von 1963 bis 1968 dann letztmalig in der höchsten Spielklasse der DDR. Der noch junge Stürmer Joachim Sigusch kickte hier unter anderem an der Seite von Nationalspieler Gerd Backhaus.
1969 schließlich erhielt Sigusch ein Angebot von Union. „Na ja, dachte ich, Großstadt ist zwar was anderes als das Landleben“, erinnert er sich 2017 an jene Tage. „Aber ich bin nun mal Brandenburger, da lag ja Berlin gleich um die Ecke.“
Allerdings sollte sich jener Wechsel in die Hauptstadt als schwierig wie äußerst langwierig erweisen. Stendal gehörte zum Bezirk Magdeburg, und der 1. FC Magdeburg hatte offenbar ebenfalls ein Auge auf den jungen Stürmer geworfen: „Vier von uns wollten sie haben, zwei gingen hin. Hans-Jürgen Hermann wurde mit dem FCM Meister und saß beim Europapokal-Endspiel gegen Mailand auf der Bank. Ich aber wollte nun mal nicht nach Magdeburg, sondern zu Union.“
Und das, obwohl ihn mit Union eine traumatische Erinnerung verband: „Es muss 1967 gewesen sein, Lok Stendal an der Alten Försterei gegen Union. In einem Zweikampf knallten ,Ate‘ Wruck und ich voll mit den Köpfen zusammen. Ich musste raus, verbrachte den Rest des Spiels in der Kabine, die Heimfahrt liegend im Auto. Unser Mannschaftsarzt arbeitete im Krankenhaus und wies mich sofort ein. Eine Woche lag ich auf Station. Über ein halbes Jahr vermied ich jeden Kopfball, den Respekt davor behielt ich bis heute. Mit anderen Worten: Ein Kopfball-Ungeheuer wurde ich nie.“ 5
Weitaus hinderlicher als Siguschs „Union-Trauma“ war mit Blick auf seinen Wechsel aus Stendal zu Union jedoch etwas anderes: Die Köpenicker durften sich offiziell lediglich in einigen Berliner Stadtteilen und im Bezirk Potsdam um Spieler bemühen. Die jeweiligen „Gebietsfürsten“ konnten ihre Hoheitsrechte durchaus ernst nehmen. So war Unions Präsident Günter Mielis einmal auf Weisung von Harry Tisch, dem Rostocker SED-Bezirkschef und Politbüro-Mitglied, von Polizei und Staatssicherheit des Bezirks verwiesen worden, als er einen hoffnungsvollen Greifswalder Juniorenspieler kontaktieren wollte.
Geradezu illegal nimmt Mielis also 1969 Kontakt zu Joachim Sigusch auf– allerdings nicht als Verantwortlicher eines spielersuchenden Fußballklubs, sondern als Mitwirkender von „Mach mit, mach’s nach, mach’s besser!“, der beliebten Sendung des Kinderfernsehens der DDR: „Doch für eine ,Mach mit…‘-Sendung lädt er Achim zur Autogrammstunde ein, um bei der Gelegenheit mit ihm sprechen zu können“, vermerkt Gerald Karpa 2009 im Unionprogramm.
Ärger mit dem Verband gibt es trotzdem, aber Joachim Sigusch darf schließlich doch zu Union kommen. Einen Haken hat die Sache allerdings: Ohne mit den Köpenickern ein einziges Oberliga-Spiel bestritten zu haben, muss der spätere Union-Kapitän im Herbst 1969 zunächst seinen „Ehrendienst“ bei der NVA antreten.
„Ich kam nach Alt Rehse in Mecklenburg“, erzählt mir Joachim Sigusch 2017. „Dort hätte ich allerdings nur ein Dreivierteljahr bleiben müssen, wenn ich bereit gewesen wäre, zum Armee-Klub Vorwärts zu gehen. Zweimal musste ich in Berlin bei einem General oder Oberst antanzen, der bei Vorwärts was zu sagen hatte. Ich wollte aber nicht dauerhaft bei der Armee Fußball spielen, und so musste ich meine anderthalb Jahre bis zu Ende ableisten. Das letzte Vierteljahr war ich verantwortlich für die BA-Kammer 6, ein ruhiger Posten. Außerdem hatte ich die Erlaubnis, das Objekt zu verlassen, um beim Armee-Klub Vorwärts Neubrandenburg Fußball zu spielen.“
Anschließend kehrt Joachim Sigusch zurück nach Köpenick, wo er am 18. November 1970 sein erstes von letztlich insgesamt 301 Pflichtspielen für den 1. FC Union Berlin bestreitet: einen 1:0-Sieg gegen BSG Stahl Riesa.
„Mit Spielern wie ,Jimmy‘ Hoge und ,Ate‘ Wruck 7zu trainieren und zu spielen, das war schon beeindruckend für mich“, erinnert sich Sigusch, dem die Fans aufgrund seiner imposanten Schusskraft in Anlehnung an den ebenso fulminanten Franz „Bulle“ Roth vom FC Bayern München schon bald den Spitznamen „Bulle“ verliehen, im Jahre 2017. „Ich denke, meine Entscheidung für Union war ein Schritt in die richtige Richtung. Leider kamen wir ja eine ganze Weile nicht so richtig vom Fleck.“
„Wir haben Union aufrechterhalten!“, widerspricht ihm Potti in unserem Gespräch an dieser Stelle, worauf Sigusch in seiner unaufgeregten Art ergänzt: „Richtig, wir haben sogar das Stadion mit gebaut.“
Das war 1978, als zahlreiche Union-Fans und auch die gesamte Mannschaft sowie ihr Trainer Heinz Werner Hand anlegten beim Ausbau des Stadions An der Alten Försterei. Dass Potti viele Jahre später zum Wiederholungstäter in Sachen Stadionbau wird, davon an anderer Stelle mehr …
Der Dritte im Bunde unserer Gesprächsrunde, Verteidiger Rolf „Rolli“ Weber, hatte einen deutlich weniger komplizierten Weg als Joachim Sigusch zu bestreiten, um am Ende bei Union unterzukommen.
Weber erblickte am 23. Dezember 1953 in Bamme das Licht der Welt. Seine Laufbahn als Fußballer begann er mit neun Jahren bei seinem Heimatverein BSG Einheit Bamme. Ab 1968 spielte er in der Kreisstadt bei der BSG Motor Rathenow und bald auch in der Juniorenauswahl des Bezirks Potsdam.
„Bei der Spartakiade erzielten wir mit der Potsdamer Bezirksauswahl ein gutes Ergebnis, und ick ragte da wohl so ein bisschen heraus“, erinnert sich Weber 2017. „Es war genau die Saison, als Union in die Oberliga aufgestiegen war und am Ende überraschend Fünfter wurde.“
Fast zeitgleich tat sich im DDR-Fußball noch etwas anderes, wie Weber zu erzählen weiß: „Es gab den Beschluss, dass die Oberliga-Reservemannschaften aufgelöst und dafür Juniorenoberliga-Mannschaften gegründet werden. Vor jedem Oberliga-Spiel gab es von nun an [das heißt mit der Oberliga-Saison 1968/69, Anm. d. Verf.] ein Spiel der Juniorenoberliga. Und weil Union so eine schwache Juniorenmannschaft hatte, suchten sie dringend Leute.“
Die zu finden, durfte sich Union in einigen Berliner Stadtbezirken sowie im Bezirk Potsdam umsehen. Das taten die Köpenicker Verantwortlichen auch bei den Webers in Bamme bei Rathenow: „Die kamen zu mir nach Hause, und ich war gleich Feuer und Flamme für Union. Ick musste nur meine Mutter überreden, dass die Ja sagt, was mir glücklicherweise gelang. In Berlin bekam ich über Union eine Wohnung am Ostbahnhof, kurioserweise die von Achim Sigusch, der gerade bei der Armee war. Als er wiederkam, musste ick raus.“
Sein erstes Oberliga-Spiel für die Eisernen bestritt Rolf Weber am 30. September 1972, zwei Jahre vor Pottis erstem Pflichtspieleinsatz in der 1. Mannschaft. „Eigentlich bin ich da eher reingerutscht“, bekennt Rolli, „ich glaube, für Hans-Joachim Sammel, der verletzt fehlte. Mit meinen gerade mal achtzehn Jahren stand ich ganz schön unter Druck, aber an der Seite von Ate Wruck fuchste ich mich ganz gut in die Abwehrarbeit ein.“
Als zentraler Abwehrspieler sorgte Weber an jenem Tag mit dafür, dass Union den „heiß geliebten“ Stadtrivalen BFC Dynamo aus Hohenschönhausen in dessen Sportforum vor etwa 15.000 Zuschauern mit 2:1 bezwang.
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