„Ich hab nie ,Potti‘ zu ihm gesagt“, stellt Müller abschließend klar. „Für mich ist er nach wie vor mein Schulfreund und Sportskamerad Wolfgang. Bis zu Corona trafen wir uns regelmäßig mit Hermann Kopittke und kloppten Skat. Gelegentlich sahen wir uns zu Union-Spielen im Stadion An der Alten Försterei. Wolfgang hat ja als Ehrenmitglied eine VIP-Karte. War ich im Stadion, rief ich ihn an. Er kam zu mir raus, und wir quatschten ein bisschen über alte Zeiten. Seinen Humor hat er zum Glück bis heute nicht verloren.“
Die Lehrermannschaft beim „Spiel der Spiele“, verstärkt durch Wolfgang Matthies; untere Reihe, Mitte: Bernhard Jabbusch; Adlershof 1975
Sportlehrer Bernhard Jabbusch überreicht Wolfgang einen Blumenstrauß, „Spiel der Spiele“ 1975.
4AG steht hier nicht, wie heute vielfach üblich, für Aktiengesellschaft, sondern für Arbeitsgemeinschaft. In diesen fanden sich Schüler oftmals sogar freiwillig zusammen, um sich intensiver mit einem bestimmten Spezialgebiet wie Literatur, Kunst, Mathematik oder eben auch Sport zu beschäftigen.
DREI JUNGS FINDEN IHREN FUSSBALLVEREIN
„Ich war nie auf einer Sportschule!“, betont Wolfgang Matthies nachdrücklich. „Nach der Schule begann ich mit sechzehn eine Lehre als Elektromonteur, doch ich wusste, dass das nur pro forma war. Ich würde nun mal Fußballer werden! Vormittags Schule, am Nachmittag Training, das war mein Tagesablauf.“
Auch was seinen Wunschverein betrifft, weiß Potti nur eine Antwort: „Ich wollte immer Fußballer werden, und von Anfang an bei Union. Schon als Junge war Union immer meine Lieblingsmannschaft! Leider hatten die, als es bei mir so weit war, keine Möglichkeit, mich im Internat unterzubringen.“
Von zu Hause weg will er jedoch unbedingt. Vor allem, weil er sich mit seinem Vater nicht versteht. So verlässt Wolfgang mit fünfzehn Jahren sein Elternhaus, um aufs Internat des mehrfachen DDR-Meisters FC Vorwärts Berlin zu gehen. Die nämlich hatten den begehrten Internats-Platz für ihn.
Vorwärts unterstand der Nationalen Volksarmee (NVA) und war einer der größten Sportklubs des Landes. Dank seines Trägers verfügte er über weit mehr Möglichkeiten als der – zumindest im Reigen der Großen – kleine Köpenicker Fußballclub Union. Bei Vorwärts sammelte Wolfgang erste Wettkampferfahrungen in der Junioren-Oberliga der DDR.
Im Sommer 1971 wurde der mehrmalige DDR-Meister jedoch von Berlin nach Frankfurt an der Oder umgesiedelt. Mit Beginn der Spielzeit 1971/72 startete er daselbst als FC Vorwärts Frankfurt. Diesen Umzug mit zu vollziehen stand für Wolfgang Matthies nicht zur Debatte: „Als die nach Frankfurt gingen, wechselte ich zu Union. Da wollte ich ja sowieso von Anfang an hin. Zu Vorwärts war ich ja nur gegangen, weil die mir eine Internatswohnung zugesichert hatten. Ich bin Adlershofer, Union war bei uns in aller Munde. Da interessierte sich keiner für Dynamo oder Vorwärts.“
Nun bekam Matthies über seinen neuen Verein eine Bleibe am Ostbahnhof, wo einige Union-Spieler und später auch Trainer Heinz Werner wohnten. Seit 1971 im Verein, spielte der Nachwuchskeeper zunächst in der 2. Mannschaft, welcher etliche junge Talente angehörten. In der Oberligamannschaft hüteten derweil der FDGB-Pokalsieger Rainer Ignaczak (von 1966–1974 im Verein, insgesamt 96 Pflichtspieleinsätze für Union) und seit der Saison 1971/72 fast ausschließlich Gerhard „Leo“ Weiß (von 1968–1975 im Verein, 142 Pflichtspieleinsätze) das Tor der Eisernen.
Im Training begegnete Matthies von Anfang an den Spielern der 1. Mannschaft. Zu deren Tormännern hatte er ein gutes Verhältnis: „Wir kamen klasse miteinander klar, alle drei. Ich hab ja zu denen aufgeschaut“, gibt er 2021 zu Protokoll. Obgleich er rückblickend eher Weiß zu seinen Vorbildern rechnet, sieht er die Stärken beider: „Ignaczak war hervorragend mit seinen Abwürfen. Der warf ja bis zur Mittellinie, einfach traumhaft. Bei Weiß gefiel mir seine ganze Ausstrahlung. Das war ein ganz Ruhiger, das mochte ich.“
Vielleicht, weil Gerhard Weiß damit das ganze Gegenteil eines Wolfgang Matthies darstellte?
In der Saison 1972/73 wird Matthies hinter Weiß und Ignaczak als dritter Torwart des Union-Kaders aufgeführt, zu einem Einsatz in der 1. Mannschaft kam er noch nicht.
„Wurdest du da gar nicht ungeduldig?“, will ich von ihm wissen.
Potti schüttelt den Kopf. „Ich wusste, dass ich zwei gute Leute vor mir hatte. Hinter denen konnte ich warten, da war ich die Ruhe selbst“, fügt er lachend hinzu. „Doch, ehrlich, das hat mir nichts ausgemacht. Ich wusste, meine Chance kommt irgendwann!“
Seinen überhaupt ersten Einsatz im Union-Dress erlebte er am 4. September 1971 in der Junioren-Mannschaft der Köpenicker, weiß Frank „Leo“ Leonhardt, Statistik-Experte von Unions offizieller Vereinszeitschrift. Auswärts in Aue hatten die jungen Eisernen mit 0:3 das Nachsehen.
Dazu sammelte Matthies Erfahrung im Tor der 2. Mannschaft, die in der Bezirksliga spielte. Ein kurzer Artikel in der Berliner Zeitung vom 28. Februar 1972 führt ihn in der Mannschaftsaufstellung. Die favorisierten Unioner kamen beim Berliner VB allerdings mit 0:4 unter die Räder.
Im Tor der 1. Männermannschaft steht Wolfgang Matthies erstmals am 10. Juni 1972. „Hier wurde er im Spiel um den ,FUWO-Pokal‘ gegen Vorwärts Stralsund (4:1) nach 67 Minuten eingewechselt für Rainer Ignaczak“, verrät Statistik-Ass „Leo“ Leonhard. Hinter sich greifen musste Wolfgang an jenem Tag nicht, aber der kurze Zeitungsartikel von H. G. Burghause vermerkt, dass „später der Junioren-Schlußmann Matthies – vom Lampenfieber geplagt – verschiedene Flanken und Ecken verpaßte“.
Am 15. Oktober 1973 findet Wolfgang Matthies, der inzwischen zwanzigjährige Schlussmann von Union II, erneut namentliche Erwähnung in einem kurzen Spielbericht der Berliner Zeitung. Bei der BSG Chemie Velten war es für die Köpenicker nach Drei-Tore-Führung noch einmal eng geworden. Die Veltener verkürzten auf 2:3, und es kam noch dicker: „Als Union-Schlußmann Matthies in der 73. Minute wegen Unsportlichkeit Feldverweis erhielt, schien ein Punktverlust des Favoriten nahe“, vermeldet das Blatt auf Seite sieben. Union holte am Ende dennoch einen 4:2-Auswärtssieg, und Potti hatte in jedem Fall auf sich aufmerksam gemacht.
Es sollte letztlich jedoch noch bis zur Saison 1974/75 dauern, ehe Wolfgang Matthies erstmalig bei der 1. Mannschaft in einem Pflichtspiel zwischen die Pfosten darf. Der 1. FC Union Berlin spielte seit der Vorsaison nur noch in der DDR-Liga, Rainer Ignaczak wechselte zur BSG Bergmann-Borsig, und Matthies wurde hinter Gerhard Weiß nun als zweiter Torwart geführt.
Obgleich seit dem 1. Juli 1974 Dieter Fietz Union-Trainer ist, sieht Potti rückblickend dessen Vorgänger als „Vater“ seines Debüts: „Ich habe es Uli Prüfke zu verdanken, dass ich die Chance bekam. Uli stellte mich in einem Sommerturnier gegen ein paar Oberliga-Mannschaften ins Tor.“
In der Saisonvorbereitung kam er, jetzt schon unter Dieter Fietz, dann unter anderem bei Testspielen gegen BSG Fortschritt Buchholz (3:2-Auswärtssieg) und daheim gegen BSG Chemie Zeitz (1:2) zum Einsatz.
Sein erstes Pflichtspiel im Tor des 1. FC Union Berlin bestreitet Wolfgang Matthies schließlich am 15. September 1974. Gegen die BSG Aufbau Schwedt feiert Union einen 4:0-Auswärtssieg, an den sich Potti längst nicht mehr erinnert. Es ist einer von sieben Liga-Einsätzen in dieser Saison, hinzu kamen drei FDGB-Pokalspiele, bei denen er mit Weiß rotierte. Genau wie in der Aufstiegsrunde, wo er in vier von acht Begegnungen zwischen den Pfosten stand.
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