Hier lief das Ganze organisierter als zuvor auf der Straße. Wir bekamen sogar eine vollständige Spielkleidung. Unsere Jerseys waren grün, mit einem weißen V vorne drauf. Das hatte keine tiefergehende Bedeutung, es war grad modern. Von sechs bis acht Jahren, also in der ersten und zweiten Klasse, spielten wir hier zusammen, Wolfgang noch als Feldspieler. Wir traten auch gegen andere Schulen an.“
Als Feldspieler in der Schulmannschaft der 10. POS Adlershof, Wolfgang obere Reihe, 3. von rechts, um 1960
„Es gab eine Adlershofer Meisterschaft“, ergänzt Claus-Peter Oehmcke, Urgestein des Adlershofer Ballspielclubs 08. Er ist sechs Jahre älter als Bernd und Wolfgang und war damals wie diese geradezu besessen von dem einst als „englische Krankheit“ verschrienen Sport: „Ich spielte für die 12. Oberschule, und wir hatten ebenfalls eigene Jerseys, Stutzen – alles, was dazugehört. Unsere Sportlehrerin war Frau Jabbusch, die Gattin des Sportlehrers von der 10. POS. Wir waren begeistert von ihr! Aufm Platz legten wir uns besonders für sie ins Zeug und gaben alles, die anderen wegzuhauen. Dreimal hintereinander gewannen wir den Pokal. Das war eine schöne Zeit. Die Schule blieb immer im Hintergrund, also das Fachwissen. Hauptsache, wir gewannen beim Fußball!“
Mit acht Jahren wechselten Bernd, Wolfgang und ihre Mannschaftskameraden schließlich rüber zu Oehmcke in den Adlershofer Ballspielclub 08. Endlich waren sie alt genug, dort bei den Knaben mitzumischen.
Gegründet am 9. November 1908, firmierte der bis zum heutigen Tage durchgängig von kleinen Privatsponsoren am Leben gehaltene Club in der DDR lange Zeit unter dem Namen SG Adlershof – 1945 waren in der sowjetischen Besatzungszone auf Weisung der Militäradministration alle Sportvereine aufgelöst worden und hatten sich auf kommunaler Ebene als „Sportgruppen“ (SG) neu gegründet. Von 1948 bis 1955 trug der ABC auch offiziell wieder den Namen Adlershofer Ballspiel Club, anschließend firmierte er jedoch bis 1989 „gegen den Willen des Clubs“, wie die Vereinschronik vermeldet, erneut als SG Adlershof.
„Aber das sagte keiner von uns“, betonen Potti, Bernd und Claus-Peter wie aus einem Mund, „wir spielten beim ABC, Punkt!“
Auch hier war Wolfgang zunächst noch Feldspieler. Doch schon bald nach seinem Start im Verein geschah es: „Bei einem Hallenturnier fiel unser Torwart aus. Weil ich groß war, stellten sie mich in den Kasten. Ich muss wohl ganz ordentlich gehalten haben, denn dabei blieb es von nun an. Ich hatte kein Problem damit, im Gegenteil.“
Wolfgang fühlte sich sichtlich wohl als Torhüter, und schon bald hatte er auch klare Vorstellungen davon, wem er auf seiner Position besonders nacheiferte: „Mein erstes Vorbild als Torhüter war Enrico Albertosi, der viele Jahre beim AC Florenz und danach bei Cagliari Calcio und AC Mailand spielte.“
Später kam noch Rudi Kargus vom Hamburger SV hinzu. Der galt etliche Jahre als der „Elfmetertöter“ der Bundesliga. Sage und schreibe 23 Mal traten Strafstoßschützen vergeblich gegen Kargus an, der wie Matthies eine Vorliebe für längeres Haupthaar zeigte. Dieser wiederum eiferte Kargus beim Entschärfen von Elfmetern nach.
Sein erster Trainer beim ABC hieß Klaus Drescher. Schon bald jedoch bekamen Wolfgang und die anderen „kleenen Piepel“ ihr Fußball-Einmaleins von einer Frau vermittelt: „Wir hatten eine Trainerin. Sie hieß Marita und brachte uns eine Menge bei. Marita war sehr gut, nur ihren hohen, blonden Dutt mochte ich nicht so. Eine Fußball-Lehrerin, das war schon ungewöhnlich. Ich jedenfalls kannte keine zweite. Außerdem war sie Schiedsrichterin.“
Bernd Müller zeigt sich in Bezug auf ihre gemeinsame Trainerin Marita Ralf weniger kühl: „Marita war zielstrebig, sie sah furchtbar gut aus, und wir gingen nicht nur aus Freude am Bolzen so gern zum Training, sondern auch, weil wir so eine junge, schicke Trainerin hatten. Marita war klasse! Wir machten widerspruchslos alles, was sie verlangte. Es war nicht so, dass wir bei ihr rumgealbert hätten oder so. Eine Übungsleiterin, dazu eine, die so toll aussah, das gab es weit und breit nicht. Wir waren stolz, bei ihr zu trainieren!“
Mindestens eine, vielleicht sogar zwei Spielzeiten betreute Marita Ralf die Knabenmannschaft des ABC. Hans-Joachim Matthies, Pottis vier Jahre älterer Bruder und seit 1964 im Verein aktiv, erinnert sich ebenfalls an sie: „Marita war schon eine Respektsperson. Später ging sie rüber zum TSC, nach Köpenick.“
„Ich war sehr traurig, als sie zum TSC wechselte“, bekennt Bernd Müller, „und Wolfgang garantiert auch!“
Beim Training, links Marita Ralf, Trainerin der Jungenmannschaft, Wolfgang vordere Reihe, 2. von rechts, hier schon als Torwart
EXKURS: Frauenfußball beim ABC
Nicht nur bei den Adlershofer Knaben und Männern hinterließ Marita Ralf einen bleibenden Eindruck. Anfang 1966 erschien sogar in der Frauenzeitschrift „Für Dich“ ein Artikel über sie. Zwei Schwarz-Weiß-Fotos zeigten sie bei ihrer Arbeit als Fußball-Referee. Union Berlins Vereinschronist Gerald Karpa kommt 2019 im Stadionheft in einem Text über die Historie des Frauen- und Mädchenfußballs beim 1. FC Union auf besagten Artikel zu sprechen und weiß zu berichten, dass Marita 1962 ihre Schiedsrichter-Prüfung bestanden habe. Der „Für Dich“-Artikel führte sie als „der einzige aktive weibliche Schiedsrichter in Berlin“ auf, und Karpa fügt hinzu: „Sie ist beim TSC Berlin aktiv und mit der Klubgründung bald nach Erscheinen des Artikels Unionerin.“
Dass die Fußball-Pionierin vom ABC kam, dürfte kein Zufall gewesen sein. „Anhand eines Fotos vom 07.04.1950 läßt sich der Beginn des Damenfußballs beim ABC 08 nachweisen“, vermeldet die Vereinschronik eine frühzeitige Vorreiterrolle des Klubs, und gut sechs Jahre später, „am 21.11.1956[,] stellte man sich der Öffentlichkeit vor. Die Presse – Wochenschau und Fernsehen – waren hochgradig interessiert. 350 Zuschauer sahen das Spiel ,Frühlingsduft‘ – ,Herbststurm‘, welches nach 2 x 30 min mit 0:2 ausging.
Wir waren sozusagen der Vorläufer des Frauenfußballs im Osten. Doch das paßte nicht ins Bild des Bundesvorstands des DTSB und der Führung des Deutschen Fußball-Verbandes. Man teilte uns mit, daß unser kühnes Vorhaben der ,Moral und Ethik‘ des Frauensportes nicht entspricht und bei Zuwiderhandlung die Sportgemeinschaft Adlershof aus dem DTSB ausgeschlossen werden würde.“
Die aufmüpfigen Adlershoferinnen und Adlershofer blieben jedoch am Ball, und spätestens zum 70. Vereinsgeburtstag stieg am Lohnauer Steig das nächste offizielle Frauenfußballspiel: „Am 13.11.1978 wurde von unseren Damen gegen die BSG Fernsehelektronik vor fast 500 Zuschauern ein 1:0-Sieg erzielt.“
Diese Mannschaft spielte zwei Jahre zusammen, dann zwang sie der Mangel an jungen Spielerinnen zum Aufhören. Fortan dauerte es bis nach der Wende, doch spätestens 1997 war der Ball wieder am Rollen, und mittlerweile sind Frauenmannschaften des Adlershofer BC seit September 1999 am Punktspielbetrieb beteiligt.
Ab 1966 wurden Wolfgang Matthies und seine Mannschaftskollegen von Claus-Peter Oehmcke und dem heute seit vielen Jahren beim SV Empor Berlin tätigen Rainer Hartpeng trainiert: „Rainer und ich waren jungsche Kerle von 18 Jahren“, erinnert sich Oehmcke. „Wir spielten gerade erst in der 1. Herrenmannschaft und trainierten nebenbei die Jungs. Das machte Spaß, und die Truppe um Wolfgang und Bernd hatte es in sich. 1966 wurden sie Schülermeister. Ich weiß noch, bei Aufbau Rüdersdorf gewannen wir 19:0, zum Rückspiel bei uns traten die Rüdersdorfer gar nicht mehr an. Viele unserer Ergebnisse waren sehr hoch, etliche der Jungs spielten später bei ABC in der 1. Männermannschaft.“
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