In der Tat gab es schon bald nicht mehr viele Anlässe dafür, wutentbrannt die Umkleidebaracke der Union-Mannschaft jener Jahre zu erstürmen. Wobei die Mannschaft des Kapitäns Sigusch alles andere als eine Torfabrik war.
„In einer Spielzeit holten wir bis zur Halbserie mit ganzen elf geschossenen Toren 15 Punkte“, erinnert sich Vorstopper Rolli Weber. „Das heißt, dass wir fast immer zu null spielten. Wir hatten eine eingespielte Abwehr mit Möckel, Bohla, Weber, Vogel – und Matthies im Tor.“
Potti kann sich natürlich auch an dieser Stelle das Frotzeln nicht verkneifen: „Dass wir auf der anderen Seite höchstens ein Tor pro Spiel schossen, lag ja nicht an uns. Das lag an den Stürmern, an Bulle Sigusch zum Beispiel.“
Der hier Gescholtene bekleidete fast die gesamte Zeit über die Funktion des Mannschaftskapitäns. Auch Rolf Weber habe kurzzeitig mal die Kapitänsbinde getragen, erinnern sich die drei. Über Kapitän Sigusch weiß Weber zu berichten: „Der Bulle war nie ein großer Redner, doch mit seinem enormen Kampfgeist riss er uns alle immer wieder mit! Gerade bei unseren beiden Siegen gegen Dynamo!“
Als ich nachfrage, ob sie denn auch auf ihren Kapitän gehört hätten, überschlagen sich Weber und Matthies geradezu. „Wir hörten unheimlich auf ihn!“, prustet Potti los. „Was soll ich denn auf einen hören, der mich beim Torschusstraining immer wieder losschickte, die Bälle aus dem Wasser zu holen? Einfach, weil er das Tor nicht traf. Was ich da ständig in die Wuhle steigen musste, um das Spielgerät zu sichern!“
Potti faustet, die Abwehr steht; v. l. n. r.: Schwemmer (Zwickau), Möckel (Union), Schellenberg, Bütow (beide Zwickau), Hendel, Rolf Weber (beide Union), Braun (Zwickau); DDR-Oberliga, BSG Sachsenring Zwickau – 1. FC Union Berlin 1:2 am 12. März 1977.
„Stand vor dem Anpfiff die Platzwahl an und Bulle sagte uns dann, wir müssten rüber auf die andere Seite, hörten wir natürlich auf ihn“, fügt Weber hinzu. „Und auch, wenn er sagte: ,Los, Männer, wir gehen ‘n Buch drucken!‘ 9Mit anderen Worten, autoritär war unser Käpten nicht.“
„Musste ick ja auch nicht“, meldet sich dieser schließlich selbst zu Wort. „Wir hatten ja keene Ausraster, das war alles schon in Ordnung. Jeder von uns hatte außerdem genug mit sich selbst zu tun. Und jeder baute auch mal Scheiße.“
„Ich hab oft genug gepatzt, wozu meine Mannschaftskameraden dann nichts weiter sagten“, zeigt sich Matthies an dieser Stelle ungewohnt selbstkritisch.
Wolfgang Matthies richtet Unions Abwehr vor einem Standard aus, links Lutz Möckel; DDR-Oberliga, BSG Sachsenring Zwickau – 1. FC Union Berlin 1:1 am 4. Oktober 1977.
Auf das Kapitäns-Thema zurückkommend, gibt Rolli Weber 2017 zu Protokoll: „Ich denke mal, der Käpten hat heute viel mehr Bedeutung als zu unserer aktiven Zeit. Allein schon durch die ganzen Medien, für die der Kapitän ständig präsent sein muss. Was aufm Platz angeht, kann ich mich nicht daran erinnern, dass uns Bulle mal als Mannschaft zusammennahm nach dem Motto: Kommt mal alle her, ich will euch was sagen.“
Auch das Gespräch mit dem Schiedsrichter gehörte damals weniger zum Alltagsgeschäft eines Mannschaftskapitäns, wie Joachim Sigusch 2017 zu Protokoll gibt: „Zum Schiri gehen, um da irgendwas zu fordern oder zu reklamieren? Das gab‘s gar nicht, das wird ja heutzutage übertrieben. Ich als Schiri würde vorm Spiel in die Kabine gehen und sagen: So, passt uff, ick entscheide da draußen, und da braucht ihr nachher nicht um meine Person herumspringen und mir erzählen, ich solle doch mal ‘ne Karte zücken oder Video gucken gehen.“
Wolfgang Matthies im Gespräch mit Schiedsrichter Klaus-Dieter Stenzel, nachdem dieser Unions Olaf Seier die Gelb-Rote Karte zeigte; DDR-Oberliga, BSG Wismut Aue – 1. FC Union Berlin 3:0 am 26. April 1986.
„Zu Ostzeiten gab‘s nur zwei gute Schiedsrichter, die nicht gegen uns pfiffen“, wirft Potti hier ein. „Das waren Hans Kulicke 10und Bernd Heynemann, ick wüsste keenen anderen.“
Rolli Weber zeigt sich einmal mehr nachsichtiger und zählt auch Günter Männig und Siegfried Kirschen zu den Unparteiischen, die auf dem Platz zumindest nicht gegen Union agierten. Sein Fazit: „Wer uns gegenüber neutral blieb, der war schon okay!“
Das Thema Schiedsrichter war und ist wohl für alle Zeiten eines für sich. Gehe ich von mir aus, sehe ich meinen Verein im Stadion kaum einmal auffällig bevorzugt vom Referee, wohl aber in unzähligen Spielen aufs Bösartigste verpfiffen. Oft half mir im Nachhinein die im Fernsehen mehrfach und aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigte Zeitlupe, die eine oder andere Entscheidung des Unparteiischen besser zu verstehen. Und ebendiese Zeitlupe, geschweige denn speziell aufbereitete Videosequenzen, hatten die Schiedsrichter jener Jahrzehnte während des Spiels im Stadion ja nicht zur Verfügung.
Längst nicht nur bei diesem Thema sind sich die drei Fußballer ausgesprochen einig. Es berührt mich, wie sie einander frotzeln und dabei wieder zu Jungs werden, die scheinbar gerade vom Bolzplatz kommen. Vor allem, weil sie bei allem Spaß Anteil am Schicksal von anderen nehmen, wie dies nur gestandene, vom Leben geprägte Menschen zu tun vermögen.
So bekommt während unseres Gesprächs einer von ihnen, ich glaube, es ist Sigusch, einen Anruf. Am anderen Ende ist jemand aus dem engeren Bekanntenkreis von Union-Legende Günter „Jimmy“ Hoge.
EXKURS: Jimmy Hoge
Der in sechs A-Länderspielen der DDR eingesetzte Stürmer bestritt am 31. Mai 1970 sein letztes von 89 Spielen für den 1. FC Union Berlin, bevor er aus disziplinarischen Gründen mehrere Jahre für alle oberen Ligen gesperrt wurde und seine Laufbahn als Leistungssportler ein jähes Ende fand. 11
Zu diesem Zeitpunkt hatte aus dem Kreis der hier zitierten drei Männer lediglich Joachim Sigusch zusammen mit Hoge bei Union trainiert. Rolf Weber erinnert sich an die Erzählungen von Wolfgang „Ate“ Wruck, dem zweiten „echten“ deutschen Nationalspieler von Union: „Bei einem Turnier in Südamerika wurde Jimmy berühmt als der blonde Junge, der dort drüben alle schwindelig dribbelte. Er war ja schon immer ein eher überschwänglicher Typ, aber auch der deutlich ruhigere Ate bestätigte uns, dass die Südamerikaner Jimmy umjubelten und verehrten.“
Später, als Rolli längst Wirt des Bootshauses Sportdenkmal in Grünau war, feierte Unions Stürmer-Legende hier seine letzten zwei runden Geburtstage, zu denen sich viele ehemalige Weggefährten ein Stelldichein gaben.
In unserem Gespräch im Oktober 2017 zeigen sich alle drei Männer nun sichtlich ergriffen, als der Angerufene mit leiser Stimme vermeldet: „Jimmy jeht‘s nich jut.“ Er habe mächtig abgenommen. Alle drei spüren offensichtlich, wie es um ihren ehemaligen Berufskollegen steht. Kurz darauf, am 6. November 2017, schließt der widerspenstige Fußballer Günter „Jimmy“ Hoge für immer seine Augen. Er wurde 77 Jahre alt. Rolf Weber dazu: „Wenn da einer wegbricht, das ist schon traurig.“
9Diese Umschreibung gebrauchten die beteiligten Fußballer, wenn sie einen Besuch der erwähnten Gaststätte Gutenberg-Stuben am Ostbahnhof ins Auge fassten. Selbstverständlich war dies auch ihren Frauen ein Begriff.
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