All dies wird auch im therapeutischen Raum wirksam, wiewohl nicht immer verbal offenkundig: Die Konstruiertheit geschlechterbezogener Bedeutungen wird in der alltäglichen Wahrnehmung unsichtbar, sie ist der Selbstvergessenheit im Vollzug der konkreten Erfahrung geschuldet (Stoller 2008).
Dieser Unsichtbarkeit kann mit Begriffen und Konstruktionen begegnet werden, die als analytische Werkzeuge für die Reflexion nützlich sind:
• Gender wird als Regelapparat aufgefasst, der für die Produktion und Normalisierung des Geschlechts sorgt: Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit werden produziert und naturalisiert.
• Heterosexuelle Matrix: Die Praxis des Geschlechtlichseins (des »Doing Gender«) orientiert sich an der vorherrschenden zweigeschlechtlichen Geschlechterordnung. Aufgrund der sozialen Normierung zur geschlechtlichen Identifizierbarkeit ist es unmöglich, dem Doing Gender zu entkommen: Nach Judith Butler bildet Heterosexualität die Matrix des sozial Sinnvollen und Verstehbaren für das Geschlecht und sichert die Anschlussfähigkeit an dominante Diskurse (Villa 2012, S. 66).
•Heterosexualität ist unauflösbar mit dem anderen, dem davon Abweichenden, verbunden – der Homosexualität. Dies führt weiter in Richtung queere Identitäten (Zika 2008); »queer« gilt auch als Sammelbegriff für Orientierungen wie schwul, lesbisch, transgender usw.
Von der Geschlechtsvergessenheit systemischen Denkens zur Integration von Gender?
Das Thema »Geschlecht« erfordert einen differenzierten Umgang mit systemischen Prinzipien und Haltungen wie denen der Allparteilichkeit oder der Veränderungs- und Konstruktneutralität. Die Unmöglichkeit einer beobachterunabhängigen Wirklichkeit ist nach der Kybernetik 2. Ordnung erkenntnistheoretisch etabliert und auch für die Auseinandersetzung mit dem Thema Gender produktiv:
»Denn wie ›neutral‹ können wir unseren eigenen Bildern und Vorstellungen von Geschlechtern gegenüber sein? Schließlich sitzen wir als sozial gewordene Männer und Frauen unseren männlichen und weiblichen Klienten gegenüber und interagieren mit diesen verbal und nonverbal in einem komplexen Geschehen, das sich – durch die Unmittelbarkeit und den Handlungsdruck – der Selbstreflexion über weite Strecken entzieht« (Kirschenhofer u. Kuttenreiter 2010, S. 80 f.).
Mit der oben gestellten Frage beschäftigten sich einige Systemikerinnen vor allem Mitte der 1980er- bis Mitte der 1990er-Jahre (s. Hare-Mustin 1991; 1994; McGoldrick, Anderson u. Walsh 1991; Rücker-Embden-Jonasch u. Ebbecke-Nohlen 2000; Walters et al. 1995): Sie äußerten Kritik an vermeintlich geschlechtsneutralen systemischen Konzepten und forderten eine Auseinandersetzung mit dem Thema »Geschlecht(erbeziehungen)«. Rachel Hare-Mustin (1991) beschrieb die Leugnung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern in den bestehenden Konzepten als Beta-Vorurteil im Gegensatz zum Alpha-Vorurteil, welches in der Überbewertung von Unterschieden bestehe: Beide Vorurteile führten dazu, dass Ungleichheit verdeckt würde. Marianne Krüll plädierte für die entsprechende Erweiterung des therapeutisch-beraterischen Kontextes um die Genderperspektive:
»Systemisch-rekursive[s] Denken nun öffnet den Blick für die ›Spielregeln‹ der Geschlechterbeziehungen, nach denen wir uns in jeder Situation – im Alltag oder in der Therapie – wechselseitig Zuschreibungen machen« (1991, S. 82).
Historisch bezog sich diese Kritik im Übergang von Kybernetik 1. zu Kybernetik 2. Ordnung vor allem auf strukturelle und strategische Therapieformen.
Obwohl eine Integration der Geschlechterperspektive im systemischen Denken vorausgesetzt werden kann, ist vor allem im deutschsprachigen Raum das geringe Interesse an einer theoretischen wie praktischen Auseinandersetzung mit den Implikationen der eigenen Beobachterperspektive in Bezug auf Geschlecht erstaunlich. Im angloamerikanischen Raum beschäftigen sich u. a. narrative Therapeutinnen (z. B. White 2007; Freedman u. Combs 1996) seit vielen Jahren mit der Wirkung dominanter Diskurse. Sie stellen die Bedeutung einer genderbezogenen Positionierung der Therapeutin und ihre Integration in ihr professionelles Handeln heraus, damit normativ-diskriminierende Verhältnisse im therapeutischen Raum vermieden werden können.
Konsequenzen für die systemische Praxis
In der Beratung und Therapie mit Einzelnen, Paaren und Familien sind Geschlecht und Geschlechterverhältnis immer implizit, manchmal auch explizit präsent und oft ein relevanter Hintergrund für Probleme und Konflikte der Klienten. Beratung und Psychotherapie sind Orte, an denen Prozesse der (Re-)Konstruktion männlicher, weiblicher oder queerer Identitätsentwürfe gestaltet und Machtkonstellationen repräsentiert und aktualisiert werden (können). Es stellt sich daher die Frage, welche Position Beraterinnen bzw. Therapeutinnen darin einnehmen.
Jeder Berater und Therapeut strickt an der »heterosexuellen Matrix« mit – über Art und Inhalt von Fragen, Aussagen, Reflexionen, über Blicke, Stimme und Tonfall, aber auch darüber, wofür man sich (nicht) interessiert, was (nicht) gehört wird oder werden kann. Dieses Mitstricken war der Fokus einer qualitativen Untersuchung von Paartherapien (Kirschenhofer u. Kuttenreiter 2006), die u. a. zu folgenden Empfehlungen führte:
•Widersprüchliche Erwartungen von Männern und Frauen an sich selbst und aneinander sind eine soziale Realität, die nicht über das Herstellen von Eindeutigkeit aufgehoben werden kann: Von therapeutischer Seite bedarf es eines behutsamen Ambivalenzmanagements.
•Achtsamkeit im Umgang mit Metaphern und ihrer Passung in Bezug auf die von Klientinnen bevorzugten Geschlechtsidentitätsentwürfe.
•Der Verführung widerstehen, von Klientinnen zur Komplizin des Veränderungsprojekts Mann zu werden.
•Mut zum Hinhören und Nachfragen, wenn bedrohliche oder gewaltsame Interaktionen angedeutet oder ausgesprochen werden: Desinteresse bedeutet Parteilichkeit für denjenigen, der einschüchtert, bedroht oder Gewalthandlungen setzt.
•Raum für affektive Kommunikation für beide Geschlechter ermöglichen: Nicht nur die Tränen des Mannes sind kostbare förderungswürdige Emotionen, auch die Frau soll sie im Paarsetting zeigen dürfen, ohne eines »Mehr desselben« verdächtigt und umgehend in »konstruktivere« Bahnen geführt zu werden.
•Autonomie und Macht: Derjenige, der sich als der Autonomere präsentiert, bringt denjenigen, der davon spricht, die Beziehung unbedingt erhalten zu wollen, immer wieder in eine Position, noch mehr dafür zu tun. Wie jeder Diskurs ist auch dieser von Genderprämissen geprägt, was von therapeutischer Seite im Sinne einer Dekonstruktion genutzt werden kann.
Dafür, die eigenen unbeabsichtigten Genderzuschreibungen zu durchkreuzen, kann ein imaginierter Tausch des Geschlechts des Klienten hilfreich sein: Wie würde ich das jetzt sehen/wahrnehmen/empfinden, wenn sie er bzw. er sie wäre? Was verändert das? Wenn z. B. Mütter sich über den Egoismus pubertierender Töchter beschweren, so relativiert sich dieser Egoismus manchmal, wenn man die Töchter hypothetisch in Söhne verwandelt – genderbezogene Maßstäbe werden sichtbar, ihre Wirkweise und Erwünschtheit besprech- und gestaltbar.
Sowohl die Auseinandersetzung mit Gender und der Bedeutung von Unterschieden als auch das Offenbleiben für die Einzigartigkeit und das Entwicklungspotenzial jenseits von Geschlecht machen den therapeutischen Balanceakt aus, den es dafür braucht, Klienten in ihrem sozialen Gewordensein wie in ihrer Individualität gerecht zu werden.
Eine Auseinandersetzung damit, wie Wirklichkeitskonstruktionen im Zusammenhang mit Geschlecht das therapeutische Tun beeinflussen, kann zu mehr Achtsamkeit gegenüber der eigenen Mitwirkung an ihrer (De-)Konstruktion führen. Ähnlich wie bei anderen Themen (z. B. Sexualität) werden die Grenzen dessen, was im therapeutischen Kontext gespürt, gedacht und gesagt werden kann, u. a. mitbestimmt durch das Ausmaß an Differenziertheit aufseiten der Therapeutin. Eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Thema »Geschlecht« liegt daher in der professionellen Verantwortung von systemischen Beratern und Psychotherapeuten.
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