Angelika Eck und Ulrich Clement
Psychotherapie ist Arbeit mit Bedeutungen, Sexualtherapie Arbeit mit sexuellen Bedeutungen. Im Zentrum steht die Frage, wie ein Paar seine Sexualität so gestalten kann, dass sie eine ressourcenaktivierende Bedeutung für die Partnerschaft entwickelt.
Bedeutungen von Sexualität in Beziehungen
»Was bedeutet Sex für Sie?« Antworten auf diese Frage können sowohl zwischen Personen variieren als auch innerhalb eines Lebens- und Beziehungsverlaufs ganz unterschiedlich ausfallen. Mit 16 Jahren zeigt sich das sexuelle Begehren anders als mit 30 oder 60 Jahren. Der eine sucht Entspannung, die andere Trost, ein Dritter Freiheit und Abenteuer beim Sex. Und am Anfang einer Beziehung verhalten sich die meisten Paare nicht nur ganz anders als nach 20 Ehejahren, sie geben der Sexualität auch einen anderen Stellenwert. Das Besondere der Sexualität liegt in dieser Bedeutungsoffenheit: Eine Vielfalt nicht primär sexueller Motive, Bedürfnisse, Emotionen und Ziele kann mit ihr verbunden werden (Gagnon u. Simon 2005). Wir beobachten und bewerten sexuelle Prozesse damit nicht nur als körperliche, sondern stets auch als psychisch und sozial bedeutsame Ereignisse.
Für sexuelle Beziehungen, allen voran für die auf Dauer angelegte Paarbeziehung, ist das Verhältnis der individuellen Sexualität zur Paarsexualität interessant. Aus systemtheoretischer Sicht gilt für Paare wie für alle sozialen Systeme, dass sie sich durch Kommunikation konstituieren (Luhmann 2008b). Sexuelle Paarkommunikation, das nonverbale sexuelle Verhalten wie das Sprechen über Sex, ist gekennzeichnet durch selektive Mitteilung und selektive Wahrnehmung. Partner bringen nur einen Teil ihres sexuellen Wunsch- und Verhaltensrepertoires in die Paarsexualität ein, meist das, was sie als konsensfähig vermuten. Gleichzeitig schließen sie nur an jene Angebote des Partners an, die im Bereich ihrer Zustimmung liegen. Vermutete oder reale Differenzen werden aus der Kommunikation ausgeschlossen. Im Verlauf einer Beziehung bildet sich so eine Schnittmenge bewährter sexueller Interaktionen heraus (Clement 2004). Sexualität nimmt damit die Funktion eines versichernden Partnerschaftsrituals ein (Bozon 1998), das zur Stabilisierung der Beziehung beiträgt. Freilich kann diese Stabilisierung ungewollt auch zur Ent-Erotisierung der Beziehung führen, denn Erotik lebt zu einem nicht unerheblichen Maß von der Fremdheit. Das Unbekannte und Unberechenbare kann anziehen, aber auch ängstigen (Perel 2006). Sexuelle Vertrautheit bestätigt besonders in langjährigen Beziehungen die Berechenbarkeit des anderen und die Dauerhaftigkeit der Partnerschaft, birgt jedoch die Gefahr der Stagnation und Langeweile. Das bindende Ritual gerät so selbst in Gefahr durch den Verlust seiner besonderen Qualität: der erotischen Spannung.
Therapeutischer Zugang
Symptomstabilisierende Muster
Zu den in der Sexualtherapie am häufigsten geschilderten Problemen zählt die Lustlosigkeit oder eine als problematisch erlebte Diskrepanz im Begehren der Partner. Die Definition von »mehr« oder »weniger« Lust ist nicht absolut, sondern systemisch als Ergebnis ihrer Kommunikation zwischen ihnen zu sehen (Schnarch 2009): Die Bewertung der Lust des einen Partners ist abhängig von der des andern.
Wenn im Vordergrund die Bedeutung der Sexualität als versicherndes Partnerschaftsritual steht, gewinnt die Lustlosigkeit eines oder beider Partner jedoch schnell bedrohliches Potenzial: Sie ist Ausdruck eines »So nicht (mehr)!«. Oft setzt dies auf beiden Seiten Mechanismen der Angstreduktion in Gang. Neben der Bagatellisierung sexueller Unterschiede besteht eine Möglichkeit der Angstreduktion im Streit. Warum im Streit? Vorwürfe und Streit suggerieren Veränderungsdruck, dienen aber häufig der Problemaufrechterhaltung, da die Logik des Streits implizit einem Harmonieideal folgt: Wer streitet, glaubt an die Möglichkeit der Gemeinsamkeit im Ziel, strebt nach Konsens und blendet die Möglichkeit einer grundlegenden, eventuell sogar die Beziehung gefährdenden Unterschiedlichkeit des anderen aus (Clement 2004).
Die Interaktion um das sexuelle Problem lässt sich häufig als Kollusion (Dicks 1967; Willi 2012) beschreiben, bei der die Partner unbewusst durch den gleichen ambivalenten Konflikt (z. B. über Abgrenzung und Nähe) verbunden sind. Die beiden Seiten der Ambivalenz werden an je einen der Partner delegiert und dort bekämpft. Aus einer intrapsychischen Konfliktlage (Ambivalenz) wird eine interindividuelle (Streit). Ein Partner besetzt z. B. die progressive Position des Sex Einfordernden, der andere den regressiven Part dessen, der Sex verweigert oder sich als Symptomträger zeigt. Der progressive Partner reklamiert meist die Definitionshoheit über den »richtigen« Sex, die Norm, von der der andere abweicht. Dessen Nein ist faktisch jedoch mächtiger: Der regressive Partner bestimmt letztlich, ob und wie es zum Sex kommt. Seine Haltung des »So nicht!« hindert ihn aber an der Beantwortung der Frage, welche Sexualität er stattdessen leben könnte oder möchte. Beide kommen in dieser Konstellation nicht weiter.
Grundkonzepte der Therapie
Erotische Entwicklung statt sexueller Funktion . Aus systemischer Sicht sind sexuelle Symptome nicht primär Ausdruck einer gestörten Funktion, die möglichst wiederhergestellt werden sollte. Das unterscheidet sie unter anderem von verhaltenstherapeutisch orientierten Ansätzen der Sexualtherapie. Hintergrund ist die Annahme, dass eine rein symptomorientierte Betrachtungsweise häufig individuelle und paardynamische Fragen der erotischen Entwicklung übersieht. Im systemischen Ansatz wird daher die Frage der sexuellen Funktion und des Könnens/Nichtkönnens vernachlässigt zugunsten der Leitunterscheidung Wollen/Nichtwollen bzw. Anderswollen (Clement 2004).
Differenzierung/selbst validierte Intimität . Das Leitkonzept der systemischen Sexualtherapie ist das Entwicklungskonzept der Differenzierung. Der erstmals von Schnarch (1997) sexualtherapeutisch adaptierte Begriff nimmt direkt Bezug auf den Grundkonflikt zwischen den Bedürfnissen nach Individualität und Bindung: Differenzierung bezeichnet die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung eines stabilen Selbstgefühls in nahen Beziehungen. Ein hoher Differenzierungsgrad ermöglicht die wechselseitige Zumutung erotischer Unterschiede auch angesichts von Furcht vor Zurückweisung oder Beschämung durch den anderen. Er drückt sich aus in einer selbst validierten Intimität, im Bekenntnis zum eigenen erotischen Profil – im Unterschied zur partnervalidierten Intimität, die sich von der Bestätigung durch den anderen abhängig sieht. Die Kommunikation dieser erotischen Differenz der Partner wird zur Schlüsselfigur der Therapie.
Therapeutische Haltung . Obwohl sich systemische Sexualtherapie an einer Entwicklungsidee orientiert, ist Veränderungsneutralität wichtig: Klienten gehen sich selbst und dem Partner gegenüber reale Risiken ein, wenn sie sich erotisch neu profilieren. Eine Neuverhandlung nicht nur der sexuellen Beziehung ist im Ergebnis selten vorhersehbar und daher eine ernst zu nehmende und bisweilen hoch ängstigende Angelegenheit. Hinzu kommt noch eine dem Erotischen inhärente Ambivalenz: Erotik spielt an der Grenzlinie von Angst und Lust, Fremdheit und Vertrautheit, Aggressivität und Passivität, Legalem und Verbotenem. Sie ist somit per se emotional riskant.
Konstruktneutralität ist bei sexuellen Themen von spezieller Relevanz. Sie verführen Therapeuten besonders leicht dazu, einseitig die positiven Seiten der Sexualität zu betonen (»gesunde« Sexualität) oder sich zu schnell moralisch, politisch korrekt oder einseitig zugunsten eines Partners zu positionieren, gerade bei kritischen Themen (z. B. Affären, extremen sexuellen Praktiken).
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