Diese Identifikationsprozesse tragen wesentlich zur Bildung eines Familiengefühls, einer generationsübergreifenden Familienidentität bei (Cierpka 1992). Diese Familienselbstbilder (Sperling 1988) können die Bindungsfähigkeit in anderen sozialen Kontexten sowie einen generationsübergreifenden Zukunftsbezug fördern. Nicht selten ist die Gegenidentifizierung ein Versuch, sich aus engen familiären Bindungen zu lösen. Der Mensch sucht oder schafft sich Werte und Lebensstile, die antithetisch zu den familiär vorherrschenden sind. Dies kann auch durch Partnerwahl geschehen.
Wesentliche Prozesse der Übertragung von Beziehungsmustern werden durch die Konzepte der Rollenzuschreibung (Richter 2010), der Delegation (Stierlin 2001a) und der Parentifizierung (Boszormenyi-Nagy u. Spark 1984) beschrieben. Hierdurch versucht man zu erfassen, wie Kinder (und das durchaus noch bis ins hohe Erwachsenenalter) familiäre Aufträge erfüllen (z. B. Tröster der Eltern, Partnerersatz, Verwirklichung von in der Vorgeneration unerreichten Idealen) oder daran scheitern.
Die Dynamik von Verdienst, Vermächtnis und Loyalität
Die ethisch-existenzielle Perspektive ist für das Verständnis der Dynamik von Familien und Paaren sowie größeren sozialen Systemen wichtig. Sie geht davon aus, dass in Familien eine Art Buchführung über die »Verdienste« und »Schulden« der Mitglieder existiert. Die Balance von Geben und Nehmen muss beachtet werden. Ein Gleichgewicht wird, wenn überhaupt, nur vorübergehend erreicht. Das Beziehungssystem gleicht einem Mobile (Stierlin 2007). Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und nach Loyalität wird als ein menschliches Grundmotiv angesehen, das Loyalitätssystem der wechselseitigen Verpflichtungen als ähnlich grundlegend wie das Bindungssystem (Pfitzer u. Hargrave 2005). So sind Eltern ihren Kindern und Kinder ihren Eltern verpflichtet. Diese Verpflichtung können sie einlösen, indem sie z. B. selbst Kinder aufziehen, sich um die Eltern sorgen oder andere Aufgaben übernehmen. Eltern können die Verpflichtung ihrer Kinder verspielen, indem sie sie vernachlässigen oder überfordern. Konflikthafte Delegationen und Rollenzuschreibungen sind in der Regel mit Loyalitätskonflikten verbunden.
Loyalität zur Familie steht im Spannungsverhältnis zur Individuation. Beides muss im Verlauf des Lebens ausbalanciert werden, von der Geburt bis zum Tode. Loyalität gibt es nicht nur in der Familie, sondern auch gegenüber anderen sozialen, kulturellen oder weltanschaulichen Gruppierungen. Dies ist heute in Zeiten schnellen sozialen Wandels und globaler Migration oft konflikthaft.
Andauerndes Ungleichgewicht im Wechsel von Geben und Empfangen gefährdet das Vertrauen in Beziehungen. Boszormenyi-Nagy und Spark (1984) sowie Boszormenyi-Nagy und Krasner (1986) sehen dies als Hauptursache für Störungen im zwischenmenschlichen Leben. Wird das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ausgebeutet, z. B. wenn unter der Vortäuschung »höherer Werte« narzisstische, materielle oder sexuelle Bedürfnisse befriedigt werden, entsteht eine »Korruption der Beziehungen« (»relational corruption«). Diese Doppelbödigkeit und das dadurch gestörte Vertrauen finden sich in schwerer gestörten Familien häufig. Aus dem verletzten Gerechtigkeitsgefühl folgt das Gefühl der Berechtigung zu destruktivem Verhalten und zum Rückzug aus sozialer Verantwortung (Reich, Massing u. Cierpka 2007, S. 22). Symptome sind in der familiendynamischen Perspektive Ausdruck von ungelösten Loyalitätskonflikten.
Auf der Ebene der Paarbeziehungen können Wünsche an den Partner gerichtet werden in der Absicht, die Verdienstkonten der eigenen Ursprungsfamilie auszugleichen. In solchen Fällen erscheint es wesentlich, dass das betreffende Paar eine neue, abgegrenzte Familieneinheit mit einem eigenen Loyalitätssystem bildet, das für beide Partner bedeutsamer wird als das Loyalitätssystem ihrer Ursprungsfamilien. Gelingt dieser Loyalitätstransfer von der Ursprungsfamilie auf den Partner und die eigenen Kinder nicht, können sich heftige Beziehungskrisen entwickeln.
Die Mehrgenerationenbehandlung
Die Erweiterung des paar- und familientherapeutischen Settings durch die Einbeziehung der Ursprungsfamilien der Eltern kann sinnvoll und hilfreich sein, wenn Konflikte aus der Ursprungsfamilie die gegenwärtigen Beziehungen belasten. Sitzungen mit den Ursprungsfamilien können zudem auch in Einzelbehandlungen klärend und förderlich sein (Massing 1994). Die klinische Erfahrung mit dem Mehrgenerationensetting zeigt, dass die Lösung wesentlicher Konflikte der Ursprungsfamilie und ein freierer Umgang mit ihr Energie für die Entwicklung der Klienten wie ihrer Angehörigen freisetzen kann. Sie kann aber auch wirkungslos oder sogar schädigend sein, wenn sie ohne gründliche Abklärung angewendet wird.
Die Einbeziehung der Ursprungsfamilien muss vorbereitet werden, am besten durch die Erarbeitung der mehrgenerationalen Beziehungen mit dem Paar oder der Kernfamilie, z. B. mithilfe des Genogramms. Erst wenn die Mitglieder der Kernfamilie, insbesondere die erwachsenen Eltern, ein Gespür dafür bekommen, dass ungeklärte Fragen aus der Ursprungsfamilie ihr Leben belasten, und wenn sie Hoffnung haben, eine Klärung könnte weiterhelfen, sollte die Einbeziehung der Ursprungsfamilie in den therapeutischen Prozess stattfinden (Massing, Reich u. Sperling 2006; Reich, Massing u. Cierpka 2007).
Tom Levold
Das Thema der Macht in sozialen Beziehungen führte in der Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung lange ein stiefmütterliches Dasein. Seine Vorläufer, der strukturelle Ansatz von Minuchin und Fishman (1992) und der strategische Ansatz Haleys (2011), maßen noch problematischen Machtfigurationen (fehlenden oder übermäßig harten Generationengrenzen, Koalitionen von Familienmitgliedern, Verkehrung von Hierarchien etc.) einen bedeutsamen Anteil an der Entstehung familiärer Pathologien bei. Besonders Haley betonte die Rolle der Macht bei allen Versuchen, Einfluss auf die Umwelt auszuüben:
»Machttaktiken werden angewandt, um Einfluss und Kontrolle über die soziale Welt zu gewinnen. […] Ein Mensch kann anderen befehlen, ihn hochzuheben und zu tragen, während ein anderer das Gleiche erreicht, indem er in Ohnmacht fällt. Beide bestimmen, was in ihrer sozialen Umwelt geschieht, indem sie Taktiken der Macht einsetzen« (ebd., S. 26).
Therapeutische Strategien und Interventionen sind aus dieser Perspektive ebenfalls Machttaktiken, die als Instrument zur Veränderung problematischer Beziehungsmuster eingesetzt werden. Auch Mara Selvini Palazzoli, die Wegbereiterin der Mailänder Schule, beschrieb die Problemdynamik von Familien mit anorektischen oder psychotischen Mitgliedern als Folge innerfamiliärer Machtkämpfe (»schmutzige Spiele«, Selvini Palazzoli et al. 1992), wobei die Therapie darin liege, die Eltern im »Kampf gegen die Macht der Symptome« zu unterstützen (ebd., S. 93).
Eine gegenläufige Haltung nahm Selvinis wichtigster Mentor Gregory Bateson ein, der in Geist und Natur warnte:
»Die Macht selbst korrumpiert nicht so sehr wie der Mythos der Macht. […] ›Macht‹, ›Energie‹, ›Spannung‹ und die anderen quasiphysikalischen Metaphern (verdienen) kein großes Vertrauen, und unter ihnen ist ›Macht‹ eine der gefährlichsten. Wer eine mythische Abstraktion begehrt, muss immer unersättlich sein« (1995, S. 272). 17«
Auch wenn Bateson sich wenig zu diesem Thema geäußert hat, dürfte klar sein, dass sich seine Kritik auf die »klassischen Prämissen der Machttheorie« (vgl. Luhmann 2012) bezieht: Sie gehen davon aus, dass Macht eine Art verfügbarer Substanz oder Eigenschaft sei, die Personen »haben« und »einsetzen« können. Damit sind immer Kausalannahmen in dem Sinne verbunden, dass A das Verhalten von B durch Einsatz von Macht festlegen kann. Zudem bestimmen klassische Machttheorien
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