Die in den Entwicklungsphasen der systemischen Therapie entstandenen psychotherapeutischen Methoden sind in integrativen Metamodellen zusammengefasst, wie sie beispielsweise von Pinsof (1995), Breunlin et al. (2011) oder Fraenkel (2011b) vorgelegt wurden. Pinsof integriert in sein Modell der problemzentrierten Therapie eine biologische, individuumzentrierte und familienorientierte Perspektive. Relevant für das therapeutische Verständnis sind alle sozialen Systeme, die sich um den Patienten und sein Problem herum gebildet haben und zur Aufrechterhaltung oder Lösung des Problems beitragen können. Es empfiehlt sich, zunächst mit dem für die Lösung relevantesten System zu arbeiten und im Zweifelsfalle eher eine Systemebene zu viel einzubeziehen. Mindestens ebenso wichtig wie das Problemsystem sind die Ressourcen, die im System verfügbar sind. Jedes präsentierte Problem hat seine eigene problemerhaltende Struktur, entscheidend für den Therapeuten ist somit die Frage, welche Einschränkungen Patienten an der Lösung ihres Problems hindern. Das Modell unterscheidet sogenannte übergeordnete Bezugsrahmen oder Metaframe works , die Bereiche von Ideen umfassen und sie zu Mustern organisieren. Metaframeworks (1) sind aktuelle Einschränkungen, die sich aus der Organisation der Interaktion um das Problem herum ergeben, Level (2) beinhaltet biologische und somatische Faktoren, Level (3) Kultur- und Gender -Aspekte, historische Einschränkungen aus der Herkunftsfamilie, transgenerationale Themen aus früheren Generationen, verinnerlichte Beziehungserfahrungen sowie das Selbst als System.
Von Fraenkel (2011b) wurde eine integrative therapeutische »Palette« für die Paartherapie entwickelt. Über verschiedene Psychotherapieansätze hinweg bietet sie eine Orientierungshilfe dafür, ein geeignetes Vorgehen auswählen zu können. Er unterscheidet die Dimensionen: Zeitrahmen (Vergangenheit vs. Gegenwart vs. Zukunft), Direktivität (Ausmaß der direktiven Führung) und den Ansatzpunkt der Interventionen (Emotionen, Gedanken, Verhalten, Physiologie). Auch die systemische Familienmedizin kann als ein integratives Modell verstanden werden (vgl. McDaniel, Hepworth u. Doherty 1997).
Die vorgestellten integrativen Ansätze sind pragmatisch ausgerichtet und offen für die Integration von Techniken aus anderen Therapietraditionen, die sich als nützlich erwiesen haben. Die Mehrzahl dieser Ansätze bezieht sich auf Konzepte und Interventionen der strukturell-strategischen Therapie (Haley 1985; Minuchin 1997) sowie auf den sozialen Konstruktionismus . Sie sind ressourcenorientiert, die Therapiedauer ist kurz, es wird in verschiedenen Settings und bei Bedarf aufsuchend gearbeitet, weitere soziale Systeme werden einbezogen. Es werden keine unrealistischen Heilserwartungen im Sinne einer Ultrakurzzeittherapie geweckt, Behandlungen können durchaus auch länger dauern. Ausgehend von der Annahme, dass Menschen sich und ihre Geschichten verstanden fühlen wollen, befassen sich Therapeuten auch mit den Narrativen der Klienten und der Familien. Unter Berücksichtigung von Ergebnissen der Bindungsforschung wird die Entwicklung von stabilen Bindungsbeziehungen als ein generelles Ziel angestrebt. Ergebnisse der empirischen Forschung werden genutzt, Behandlungsergebnisse und Therapieprozess werden überprüft und durch Nachuntersuchungen belegt. Für die Wirksamkeit, die rasche Reduktion von Symptomen und die anhaltenden Wirkungen der meisten dieser neueren systemischen Modelle gibt es gute empirische Belege (Lebow 2005).
Die Ansätze unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von älteren systemischen Modellen – sie erkennen die Bedeutung des Individuums und biologischer Prozesse als relevante Systemfaktoren an. Erkenntnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen wie der Sozialpsychologie, der Entwicklungspsychologie, der Bindungstheorie oder der Theorie des sozialen Lernens werden berücksichtigt. Begriffe wie »Krankheit« und diagnostische Labels werden nicht vollständig abgelehnt, sondern in einer offenen, weniger wertenden und reflektiert-kritischen Form eingesetzt. Mit der Weiterentwicklung solcher Ansätze verbinden eine Reihe von Autoren im systemischen Feld die Hoffnung auf die zukünftige Entwicklung einer allgemeinen, systemisch fundierten Psychotherapie jenseits des alten Schulendenkens.
1.4Dynamik sozialer Systeme: Was Beziehungen zwischen Menschen in Bewegung hält
Das abschließende Kapitel des ersten Teils geht auf Elemente der Dynamik sozialer Systeme ein, die grundsätzlich für alle sozialen Systeme, insbesondere auch für Therapie und Beratung, als übergreifende – nicht unbedingt problemgebundene – Phänomene eine Rolle spielen. Einerseits sind sie als typische Themen in therapeutischen Prozessen von Belang, andererseits selber auch Merkmale dieser Prozesse. Im Unterschied zu spezifischen klinischen Themen oder Problembereichen (vgl. Teil 3) geht es hier um Beobachtungsperspektiven, mit denen Therapeuten und Berater vertraut sein sollten. (Tom Levold)
1.4.1Affektive Faktoren in der systemischen Therapie
Luc Ciompi
Affekt und Emotionen im systemischen Diskurs
Affektive Faktoren spielten im systemischen Diskurs lange Zeit praktisch keine Rolle. Sie wurden entweder als unspezifisch abgetan, als störend betrachtet oder als »selbstverständlich« vorausgesetzt. Im Vordergrund standen in der Frühentwicklung der systemischen Praxis und Theorie die vermeintlich bloß kognitiven Aspekte des Beobachtens, Unterscheidens, paradoxen Verschreibens in den innovativen Ansätzen. Zur Vernachlässigung von emotionalen Erscheinungen trug sicher auch ihre hohe Komplexität mit ihren sowohl bewussten wie unbewussten und körperlichen, psychischen wie sozialen Aspekten bei. Verwirrend war ferner die Tatsache, dass emotionale Wirkungen (z. B. schwere Traumata) ihre Anlässe um Jahre bis Jahrzehnte überdauern können und sich je nach Zeit und Kultur mit anderen kognitiven Inhalten verknüpfen. Gefühle »haben« nicht nur Geschichte, sondern sie »machen« auch »Geschichte«. Sie wandeln sich mit der Zeit und vermögen unter geeigneten Bedingungen (wie etwa im »Arabischen Frühling« von 2011) als gebündelte emotionale Energien großräumige historische Entwicklungen in Gang zu setzen (vgl. hierzu Ciompi u. Endert 2011).
Seit zehn bis 20 Jahren ist indes das Affektthema auch im systemischen Diskurs immer wichtiger geworden. Anstoß dazu gaben neben neuen neurobiologischen Befunden zum ständigen Zusammenwirken von Emotion und Kognition auch die Metaanalysen zur Wirksamkeit verschiedenster psychotherapeutischer Verfahren von Grawe et al. (1999), die zu der klaren Forderung nach Fokussierung auf die Affekte des Klienten führten. Auch Kruse (1991) bezeichnete Emotionen als das »primäre Arbeitsmaterial« der Systemtherapie, von dessen Veränderung Erfolg oder Misserfolg entscheidend abhänge. 1998 wurde das Affektproblem im Buch Gefühle und Systeme von Welter-Enderlin und Hildenbrand erstmals im deutschen Sprachraum aus systemischer Sicht gezielt behandelt (Welter-Enderlin u. Hildenbrand 1998). Beachtung fanden darin u. a. die von Maturana als »Linguieren«, »Konversieren« und »Emotionieren« bezeichneten Ideen (Maturana 2001), die Untersuchungen von Stern et al. zur frühen Mutter-Kind-Beziehung sowie die von uns selbst aufgrund einer Zusammenschau von Befunden aus verschiedensten Bereichen der Emotionswissenschaft unter dem Begriff der »Affektlogik« entwickelten Konzepte zu den ständigen Wechselwirkungen zwischen Fühlen und Denken (vgl. Levold 1998a; Ludewig 1998; Stern 1998b; Ciompi 1998). Im Jahr 2004 folgte eine breite Diskussion des Stellenwerts von Affekten in einem Sonderheft der Zeitschrift Soziale Systeme . U. a. suchten Baecker (2004) und P. Fuchs (2004) im Anschluss an einen eigenen Beitrag über einen »blinden Fleck« bei Luhmann in Bezug auf Affektwirkungen (Ciompi 2004) dort nach Antworten auf die Frage »Wozu Gefühle?«. Simon (2004) schlug vor, Affekte als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zu verstehen, Wimmer (2004) analysierte ihre evolutionären und soziokulturellen Wurzeln etc. Auch in neueren systemischen Publikationen nimmt das Affektthema einen zunehmenden Raum ein (vgl. Schweitzer u. von Schlippe 2012; Schiepek 2009a; Wagner 2010).
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