Auch die multidimensionale Familientherapie (MDFT) ist ein störungsspezifischer Ansatz zur Behandlung von Jugendlichen mit Substanz- und Verhaltensstörungen (Spohr u. Gantner 2010). Sie beruht auf dem strukturell-strategischen Modell und berücksichtigt Ergebnisse der Entwicklungspsychopathologie, der Suchtforschung sowie der Lern- und Systemtheorie. Ergänzt wird der Ansatz von einer ökologischen Perspektive, in der Individuen und ihre Familien in ihrer Einbettung in soziale Kontexte verstanden und relevante außerfamiliäre Bezugspersonen bzw. -systeme in die Behandlung einbezogen werden. Der therapeutische Prozess gleicht einer Pendeldiplomatie zwischen Subsystemen – dem Jugendlichen, den Eltern, der Familie insgesamt – und weiteren sozialen Systemen wie Schule, Freunde usw. Zu den wichtigsten Aufgaben des Therapeuten gehört die Stärkung der Behandlungsmotivation. Grundlegend für den Erfolg ist die Haltung des Therapeuten, der sich als Anwalt des Jugendlichen und der Eltern versteht. Veränderungsfokus sind konkrete Interaktionen und Beziehungs- und Lebensthemen, die für den Jugendlichen und seine Eltern von Bedeutung sind.
Die multisystemische Therapie (MST) wurde für Jugendliche mit schweren Sozialverhaltensstörungen und Delinquenz entwickelt (Fürstenau u. Rhiner 2010; Sheidow u. Henggeler 2008). Inzwischen wird der Ansatz auch bei Jugendlichen mit Diabetes, Suizidalität, Übergewicht und emotionalen Anpassungsstörungen eingesetzt. Theoretische Grundlage sind die Allgemeine Systemtheorie sowie strategische und strukturelle Ansätze wie die sozialökologische Entwicklungstheorie von Bronfenbrenner. Es wird davon ausgegangen, dass Störungen im Kontext der Familie entstehen, etwa durch verdeckte Koalitionen zwischen Indexpatient und einem Elternteil oder durch das Zusammenspiel anderer Systeme und Familie. Der Fokus des ressourcenorientierten therapeutischen Vorgehens liegt auf der Veränderung der sozialen Lebenswelt des Jugendlichen – der Familie, der Schule oder Peers – mit dem Ziel, eine Veränderung des Problemverhaltens zu ermöglichen. Die Position des Therapeuten ist aktiv und handlungsorientiert, Verhaltensabläufe werden in den Mittelpunkt gestellt. Die Interventionstechniken sind primär systemisch und werden zum Teil durch verhaltenstherapeutisch orientierte Interventionen ergänzt. Die Behandlungen finden aufsuchend in der natürlichen Umgebung des Patienten statt.
Eine Besonderheit der MST ist das hochintensive Setting – drei bis vier Therapeuten bilden ein Team, das an sieben Tagen über 24 Stunden eine Rufbereitschaft unterhält. Jeder Therapeut sieht lediglich vier bis sechs Familien über einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten, mit durchschnittlich 60 Stunden direkter Kontaktzeit.
Humanistische und bindungsorientierte systemische Ansätze
Die Bindungsorientierte Familientherapie (ABFT – attachment based family therapy) von Diamond und Levy (2010) ist ein Kurzzeitverfahren für Jugendliche mit depressiven Störungen und Suizidalität. Diese Beschwerden werden auf Verletzungen des Vertrauens und der Bindungsbeziehung zurückgeführt, die durch vordergründige Verhaltensprobleme überlagert werden. Das Wiederherstellen von Vertrauen und Gerechtigkeit zwischen Familienmitgliedern ist primäres Ziel der ABFT. Das praktische Vorgehen umfasst parallele und gemeinsame Gespräche mit dem Jugendlichen und seinen Eltern, bei denen fünf Schritte zu unterscheiden sind: (1) die Umdeutung der Beziehung, (2) das Herstellen einer Beziehung zum Jugendlichen bzw. (3) zu den Eltern, (4) die Wiederherstellung der Bindungsbeziehung in einer gemeinsamen Sitzung sowie als letzter Schritt (5) die Stärkung von Kompetenzen, der Aufbau eines guten Selbstwertgefühls und die Förderung von Autonomie des Jugendlichen. Gearbeitet wird überwiegend mit Enactments (Minuchin u. Fishman 1992), mit deren Hilfe Familien eine korrigierende Bindungserfahrung machen. Die ABFT ist auch für Jugendliche mit erheblichen Beeinträchtigungen und komplizierter Vorgeschichte aus sogenannten Multiproblemfamilien und sozialen Randgruppen geeignet (Diamond u. Levy 2010).
Die emotionsfokussierte Therapie (EFT) verbindet erlebnisorientierte Ansätze mit der strukturellen Familientherapie und der Bindungstheorie (Johnson 2010). Neben einer gesprächstherapeutisch geprägten Vorgehensweise kommen Enactments und restrukturierende Interventionen zum Einsatz. Das Verfahren wird insbesondere in der Paartherapie, aber auch bei Kindern mit belastenden Erfahrungen angewendet. Zentraler Fokus ist die emotionale Bindung zwischen den Partnern oder zwischen Eltern und Kind. Beziehungsprobleme werden als Folge einer Verletzung der gegenwärtigen Bindungsbeziehung verstanden. Das Vorgehen ist auf die Interaktionen im Hier und Jetzt ausgerichtet. Therapeut und Klienten sollen Muster und innere Erlebnisse erkennen und mit dem ehelichen Quidproquo in Verbindung setzen. Schlüsselgefühle werden aufgespürt, benannt, elaboriert und differenziert. Der Therapeut hilft bei der Benennung von emotionalen Erfahrungen; Empathie und Validierung durch den Therapeuten schaffen einen Kontext für Veränderung. Das therapeutische Vorgehen setzt vornehmlich am Zyklus von Anklage und Rückzug an und umfasst drei jeweils untergliederte Schritte: die Deeskalation von negativen Interaktionszyklen, die Veränderung festgefahrener interaktioneller Positionen sowie eine Konsolidierungs- und Integrationsphase. Der Therapeut übernimmt eine aktive Position, geht ausführlich auf das emotionale Erleben ein und vertieft es. Die EFT zählt zu den empirisch am besten bestätigten Paartherapieansätzen.
Die Filialtherapie wurde für Familien mit verhaltens- und beziehungsgestörten Kindern im Grundschulalter entwickelt. Sie verbindet Elemente der Gesprächstherapie und der nichtdirektiven Spieltherapie mit der Systemtheorie, insbesondere der strukturellen Familientherapie (Thomas 2010). Zunächst führt ein Therapeut eine spieltherapeutische Sitzung mit dem Kind durch und wird dabei von den Eltern und im Beisein eines Ko-Therapeuten beobachtet, der das Vorgehen erläutert. Im nächsten Schritt übernimmt dann zunächst ein Elternteil den aktiven Part in der Spielsitzung, während ein Therapeut und der andere Elternteil hinter der Beobachtungsscheibe das Geschehen beobachten und über das mögliche innere Befinden des Kindes reflektieren. In einem weiteren Schritt wird dieser Prozess in die häusliche Umgebung übertragen (ebd.).
Die mentalisierungsbasierte Familientherapie (MBFT) verbindet Aspekte der psychodynamisch orientierten mentalisierungsbasierten Einzeltherapie (MBT) mit systemischen Ansätzen (Asen u. Fonagy 2010). Als Mentalisieren wird die Fähigkeit bezeichnet, sich in die Gedanken und Gefühle anderer Menschen hineinversetzen zu können und ihre Motive zu verstehen. Grundhaltung beim Mentalisieren ist eine respektvolle, nachforschende Neugierde auf das innere Erleben anderer Menschen. Zentrales Ziel der MBFT ist die Stärkung der Fähigkeit von Familienmitgliedern, die Beweggründe und das Erleben der Angehörigen zu verstehen, womit eine Vertrauensbasis aufgebaut und die Bindung zwischen Kindern und Eltern gefördert wird. Familiäre Probleme lassen sich besser auflösen, wenn sich die Angehörigen wechselseitig in ihre Gedanken und Gefühlszustände hineinversetzen können. Das therapeutische Vorgehen besteht aus einer fünf Schritte umfassenden rekursiven »Mentalisierungsschleife«: (1) Interpunktieren einer Interaktionssequenz, (2) Überprüfen der eigenen Beobachtungen, (3) Mentalisieren des Augenblicks, (4) Verallgemeinern und (5) Zusammenfassen. Zur MBFT liegt ein Manual mit praktischen Übungen vor; als relativer neuer Ansatz verfügt die MBFT bislang noch über keine Wirksamkeitsstudien.
Übergeordnete integrative Modelle
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