Zu präzisieren ist, dass mit »Affekt« und »Affektivität« in diesem Kapitel in der Regel gefühlsartige Erscheinungen aller Art im Sinn eines Oberbegriffs gemeint sind. Dies ist insofern sinnvoll, als sich immer wieder neue definitorische Versuche der Abgrenzung zwischen einander überlappenden Begriffen wie »Gefühl«, »Affekt«, »Emotion«, »Stimmung«, »emotionale Befindlichkeit« etc. als wenig fruchtbar erwiesen haben. Zudem vernachlässigen sie gemeinsame Eigenschaften wie die Tatsache, dass es sich durchweg um ganzheitlich psychosomatische Befindlichkeiten mit energetisch-motivationalen Wirkungen und vielfachen Schalt- und Filtereffekten auf Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Denken handelt. Auch erlaubt erst ein derart gefasster Affektbegriff eine klare Abgrenzung zum Begriff der Kognition: Diese lässt sich nun – ganz im Einklang mit kybernetischen Konzepten und mit der zentralen Wichtigkeit von kognitiven Unterschieden in der Systemtheorie – als die Fähigkeit zum Treffen von Unterscheidungen und zu ihrer weiteren mentalen Verarbeitung (Speicherung, Reaktivierung, Kombination) definieren. Affekte sind, so gesehen, Energien (genauer: evolutionär verankerte, kontextabhängige Energieverbrauchsmuster), während Kognitionen den Strukturen entsprechen, die diese Energien kanalisieren (vgl. Ciompi 1998).
Affektive Rahmung, affektive Kommunikation und Empathie
Unter »affektiver Rahmung« ist das – den psychoanalytischen Begriffen des Holdings von Winnicott (2006) und des Containments von Bion (2009) verwandte – Bemühen zu verstehen, die Behandlungssituation durch sinnvolle Affektkanalisation und -regulation in therapeutisch fruchtbarer Weise zu stabilisieren. Bion prägte hierzu das schöne Bild einer Mutter, welche heftige Gefühle, die ein Kind aus dem Gleichgewicht bringen, wie ein Gefäß in sich aufnimmt und dem Kind in verarbeiteter Form zurückgibt. In der systemischen Therapie geht es dabei z. B. um das Bewahren einer wohlwollend-wohltuenden Distanz seitens der Therapeuten, gegebenenfalls auch um ein ruhiges Verbalisieren von heftigen Gefühlen, die z. B. in einem Familienkonflikt aufflammen und den Fortgang der Therapie gefährden mögen.
Affektive Kommunikation und Empathie spielen dabei eine zentrale Rolle. Erstere impliziert keineswegs nur das Sprechen über Gefühle, sondern auch alle durch das prä- und averbale Verhalten (Auftreten, Körperhaltung, Stimme, Mimik, Gestik, Sitzordnung etc.) vermittelten Botschaften etwa über Nähe oder Distanz, Konsens oder Dissens, Beziehungssituation und -hierarchie. Zur affektiven Kommunikation i. w. S. gehörten deshalb auch schon die Art des Empfangs am Telefon, die Raum- und Farbgestaltung und überhaupt die gesamte » emotionale Atmosphäre« des therapeutischen Settings. Affektive Botschaften werden primär unbewusst vermittelt, aber lassen sich durchaus auch bewusst steuern. Wichtig ist, zu realisieren, dass affektive Komponenten auch in zunächst vielleicht als rein kognitiv imponierenden Verfahren wie etwa im zirkulären Fragen, im Verschreiben von Ritualen, in der Positivierung, bei Coaching und Beratung am Werk sind. Eine zentrale Rolle spielt die affektive Kommunikation insbesondere in der Technik der Familienaufstellung, der Mediation, der Krisenintervention und der Traumabehandlung.
Affektbestimmte Wirklichkeitskonstruktion
Affekte beeinflussen unsere Konstruktion der Wirklichkeit andauernd in hohem Maß. Denn sie wirken auf Denken und Handeln keineswegs nur als allgegenwärtige »Motoren« (Piaget 1995) oder (z. B. in depressiver Verstimmung) als »Bremser«. Sie funktionieren zugleich als primäre Organisatoren und Reduktoren der Komplexität von Wahrnehmung und Denken: Unbewusste Schalt- und Filterwirkungen von Affekten auf Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis bestimmen weitgehend, was wir in der Umwelt selektiv beachten, speichern oder mobilisieren und schließlich zu größeren Gedankengebäuden – d. h. zu einer Logik im weiten Sinn – zusammenbauen. Kognitive Inhalte mit ähnlicher Affektfärbung werden bevorzugt miteinander verbunden (»ein netter Mensch«, »ein wunderbares Land«). So entstehen mit der Zeit – gewissermaßen über affektspezifische Schienen – personen- wie gruppenspezifische affektiv-kognitive Eigenwelten , die z. B. von einer Logik der Angst, der Wut, der Scham oder Freude beherrscht sind. Krasse Beispiele hierfür liefern extreme politische oder religiöse Ideologien, ferner die abwechselnd euphorischen und melancholischen Fühl-Denk-Welten von manisch-depressiv Erkrankten oder auch die von einer Logik der Wut, der Scham oder der Liebe beherrschten Fühl-, Denk- und Verhaltenssysteme von Verbitterten oder Verliebten. Praxisrelevant ist ferner, dass alle solchen Eigenwelten typischen Systemen im Sinn der Systemtheorie entsprechen, die ständig von einer Vielzahl von selbstorganisatorischen Feedbackmechanismen stabilisiert werden.
Systemerhaltend wirken dabei nicht nur die konservative affektiv-kognitive Mitte mitsamt ihren obligaten blinden Flecken, sondern durchaus auch Extrempositionen, welche die Grenzen eines bestimmten Fühl-Denk-Verhaltens-Systems sowohl bezeichnen wie auch befestigen.
Bestimmen, ein- und abstimmen, zustimmen, umstimmen
Die vielfältigen praktisch-therapeutischen Implikationen des Gesagten lassen sich schematisch in die im Untertitel genannte Formel zusammenfassen, die, sinnvoll moduliert, fast auf jede therapeutische Begegnung anwendbar ist. Mit »Bestimmen« ist gemeint, dass der Therapeut im Sinn der erwähnten »affektiven Rahmung« von allem Anfang an möglichst klare, Vertrauen und emotionale Sicherheit fördernde Rahmenbedingungen (z. B. hinsichtlich Ort, Zeit, Finanzen, gegenseitiger Rollen und Erwartungen) schaffen sollte. Ebenso wichtig ist es, sich möglichst früh und gut auf die – in der Regel durch eine spezifische Verstimmung geprägte – affektivkognitive Eigenwelt der Klienten ein- und mit ihr abzustimmen, das heißt durch Empathie, Exploration und sorgfältige Beobachtung auch von averbalen Botschaften möglichst rasch herauszufinden, von welcher Art von Leitgefühlen (z. B. Angst, Wut, Scham usw.) ihre affektiv-kognitive Eigenwelt beherrscht ist. Dies, um als Nächstes solchen Gefühlen auch dann, wenn man sie selbst nicht teilt oder billigt, prinzipiell zustimmen, das heißt, sie ernst nehmen und explizit als berechtigt anerkennen zu können. Erst auf dem Boden einer in dieser Art emotional befestigten therapeutischen Allianz kann es (u. a. mithilfe von denk-, fühl- und verhaltenstrukturierenden systemischen Spezialtechniken wie den oben genannten) schließlich gelingen, eine heilsame emotionale Umstimmung – das zentrale Ziel jeder Therapie – in Gang zu bringen.
1.4.2Geschlecht und Gender
Sabine Kirschenhofer
Geschlecht als zentrale Strukturkategorie
Geschlecht als zentrale Strukturkategorie von Gesellschaft erfasst auch den therapeutischen Raum, von Rachel Hare-Mustin als »mirrored room« im Sinne eines Spiegel(n)s dominanter Diskurse beschrieben:
»What shimmers and bounces off the mirrored walls of the therapy room are reflections of dominant discourses that are as pervasive as the air we breathe« »Der Schein, der von den verspiegelten Wänden des Therapiezimmers zurückgeworfen wird, besteht in den Reflexionen dominanter Diskurse, die so durchdringend sind wie die Luft, die wir atmen« (1994, S. 33; Übers.: T. L.).
Das Thema Geschlecht und »Geschlechterverhältnis« ist auf vielfältige und komplexe Weise verknüpft mit gesellschaftlichen Verhältnissen und Diskursen im Zusammenhang mit Macht, Ungleichheit, Emanzipation, soziokulturellen Normen und Praktiken. Darüber hinaus gibt es Verschränkungen mit anderen Strukturmerkmalen wie Geschlecht, Alter, Ethnizität, Bildung, soziale Schicht, Konfession u. Ä., die zu Benachteiligung und Marginalisierung führen können.
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