40Die Grundstückssituation muss vom Normalfall, welcher der gesetzlichen Abstandsregelung zugrunde liegt, in so deutlichem Maße abweichen, dass die strikte Anwendung des Gesetzes zu Ergebnissen führen würde, die der Zielrichtung der Norm nicht entsprechen (OVG NRW, B. v. 5.10.1998 – 7 B 1850/98 – BRS 60 Nr. 105).
Es muss sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste und bedachte Fallgestaltunghandeln. Dies kann sich aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder Nachbargrundstück, aus einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern oder aus topographischen Besonderheiten des Geländeverlaufs ergeben (OVG NRW, B. v. 2.3.2007 – 10 B 275/07 – BauR 2007/1027; BayVGH, B. v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – BauR 2007/1858; U. v. 15.12.2008 – 22 B 07.143 – BRS 73 Nr. 129; OVG Mecklenburg-Vorpommern, B. v. 25.6.2014 (3L 218/13 – BRS 82 Nr. 142).
3.Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange
41Eine Abweichung von bauordnungsrechtlichen Anforderungen kann nur zugelassen werden, wenn sie unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belangemit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die nachbarlichen Belange sind Belange, die durch die jeweilige Norm geschützt sind. Bei den nachbarlichen Belangen muss es sich hingegen nicht um subjektiv-öffentlichen Rechtspositionen oder um Belange handeln, die auf nachbarschützenden Normen beruhen. Das Gesetz verlangt, wie bei dem planungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme, eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn. Werden die nachbarlichen Interessen nicht mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt, dann wird der Nachbar auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Vorschrift, von der die Abweichung zugelassen wird, nicht dem Nachbarschutz dient (BayVGH, B. v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – BauR 2007/1858).
42Je stärker die Interessen des Nachbarn berührt sind, umso gewichtiger müssen die für die Abweichung sprechenden Gründe sein. Soll von einer nachbarschützenden Vorschrift über Grenzabständeabgewichen werden, bedarf es des Vorliegens von privaten oder öffentlichen Belangen von herausgehobener Bedeutung, um sich gegen die Nachbarinteressen durchzusetzen. Bei der Gewichtung der nachbarlichen Interessen ist zu bedenken, dass diesen Interessen schon deshalb ein gewisser Vorrang zukommt, weil sie auf einem Interessenausgleich beruhen, den der Gesetzgeber für sachgerecht angesehen hat (VGH Kassel, B. v. 6.8.2007 – 4 TG 1133/07 – NVwZ – RR 2008/83; OVG RhPf, U. v. 3.11.1999 – 8 A 10951/99 – BRS 62 Nr. 143).
4.Vereinbarkeit mit den öffentlichen Belangen
43Eine Abweichung von bauordnungsrechtlichen Anforderungen muss mit den öffentlichen Belangen ,insbesondere mit den Anforderungen nach § 3 Abs. 1 vereinbar sein. Dabei handelt es sich um einen gerichtlich voll überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff. Die Auslegung der jeweiligen Norm muss ergeben, welche öffentlichen Belange mit ihr verfolgt werden. Erst dann kann die Frage beantwortet werden, ob die Abweichung gleichwohl mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
44Die öffentlichen Belange umfassen alle baurechtlich relevanten Allgemeininteressen. Zur Beantwortung der Frage, welche öffentlichen Belange eine Norm schützt und welchen Zweck eine gesetzliche Anforderung verfolgt, ist das von der Norm geschützte Rechtsgut zu ermittelnund bei der Entscheidung in den Vordergrund zu stellen (OVG Lüneburg, U. v. 8.4.1961 – I A 2/60 – DVBl. 1961/477; OVG NRW, U. v. 28.1.2009 – 10 A 1075/08 – s. nrw.de ).
Die Zulassung einer Abweichung muss insbesondere mit den Anforderungen nach § 3 Abs. 1 vereinbar sein. Das heißt, dass durch die Zulassung einer Abweichung weder die öffentliche Sicherheit gefährdet werden darf, noch unzumutbare Belästigungen entstehen dürfen. Mit dieser in § 66 Abs. 1 Satz 1 vorgenommenen Grenzziehung für die Zulassung einer Abweichung, die sich eigentlich schon unmittelbar aus § 3 Abs. 1 ergibt, wird zugleich signalisiert, in welchem Ausmaß der normgerechte Standard durch Abweichungen unterschritten werden darf.
45Eine Abweichung kann auch durch besonders schutzwürdige öffentliche Belangegerechtfertigt sein, die sich gegenüber den mit der Norm verfolgten Belangen durchsetzen. Hier liegt ein die Abweichung rechtfertigender Sonderfall vor. Auch diese Fallgruppe verlangt eine Atypik, wobei sich die besondere Situation nicht aus der spezifischen Lage des Baugrundstücks ergibt, sondern aus den anders nicht durchsetzbaren öffentlichen Belangen, wie Belange des Lärmschutzes (VGH Kassel, B. v. 6.8.2007 – 4 TG 1133/07 – NVwZ – RR 2008/83). Grundsätzlich können auch städtebauliche Gründe als öffentliche Belange die Zulassung einer Abweichung von den Abstandsvorschriften rechtfertigen (BayVGH, B. v. 4.6.2007 – 25 CS 07.940 – NVwZ – RR 2007/578). Das gilt auch für Belange des Denkmalschutzes.
5.Erforderliche Angaben bei Zulassung einer Abweichung
46Nach § 66 Abs. 1 Satz 2 hat die BauABbei Zulassung einer Abweichung anzugeben, von welchen Vorschriften und in welchem Umfang eine Abweichung zugelassen wird. Wird eine Baugenehmigung ohne erforderliche Abweichung erteilt oder wird die erforderliche Abweichung stillschweigend zugelassen, kann sie durch besonderen Verwaltungsakt nachgeholt werden. Die Rechtmäßigkeit der nachgeschobenen Abweichung kann in einem bereits anhängigen Nachbarrechtsstreit ohne Vorverfahren zusammen mit der Baugenehmigung geprüft werden (vgl. BVerwG, U. v. 17.2.1971 – IV C 2.68 – NfW 1971/1147).
III.Unberührtheitsklausel (§ 66 Abs. 1 Satz 3)
47Nach § 66 Abs .1 Satz 3 bleibt § 83 Abs. 1 Satz 3 unberührt. Diese Vorschrift, nach der von Technischen Baubestimmungen unter bestimmten Voraussetzungen abgewichen werden darf, gehtt der Regelung des § 66 vor. Nach § 83 Abs. 1 Satz 3 bleibt wiederum § 66 unberührt, so dass Abweichungen nach § 66 dann möglich sind, wenn die Voraussetzungen für eine Abweichung von den Technischen Baubestimmungen nach § 83 Abs. 1 Satz 3 nicht vorliegen.
IV.Verfahren (§ 66 Abs. 2 und 3)
48Die Zulassung einer Abweichung bedarf nach § 66 Abs. 2 Satz 1 eines schriftlichen und begründeten Antrags.
Danach genügt es nicht, für ein Vorhaben, das mit dem öffentlichen Baurecht unvereinbar ist, in einem Bauantrag stillschweigend einen Antrag auf Zulassung einer Abweichung zu stellen. Der Bauherr muss vielmehr ausdrücklich einen solchen Antrag stellen, die Vorschrift angeben, mit der das Vorhaben nicht vereinbar ist und den Antrag begründen. Hierdurch soll der Bauherr gezwungen werden, die Abweichungsbedürftigkeit seines Vorhabens gegenüber der BauAB offenzulegen.
Unterbleibt ein Antrag, so hat die BauAB nach § 69 Abs. 2 Satz 1 den Antrag unter Fristsetzung nachzufordern. Wird der Forderung nicht nachgekommen, so soll die BauAB nach § 69 Abs. 2 Satz 2 den Bauantrag unter Angabe der Gründe ablehnen.
49Ein schriftlicher und begründeter Antrag für die Zulassung einer Abweichung ist nach § 66 Abs. 2 Satz 2 auch erforderlich für Anlagen, die keiner Genehmigung bedürfen. Hierbei geht es um die verfahrensfreien Baumaßnahmen nach § 60, insbesondere um die im Anhang genannten baulichen Anlagen und Teile baulicher Anlagen, um die genehmigungsfreien öffentlichen Baumaßnahmen nach § 61 sowie um die sonstigen genehmigungsfreien Baumaßnahmen nach § 62.
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