Sie gingen zur Haustür; da lag ihr durchnässter Rucksack - aber die Tür war nach wie vor verschlossen.
Yohann meinte, in den Augen seiner Begleiterin einen Anflug von Panik zu lesen. Ruhig fragte er: »Und oben? Haben Sie bei der oberen Tür nachgeschaut?«
Lina schüttelte den Kopf. Warum sollte die obere Tür offen sein? Aber Yohann forderte sie mit einer Geste auf voranzugehen, und so stiegen sie hintereinander die enge Holztreppe zur Tür im ersten Stock hoch. Lina drückte die Klinke - abgeschlossen, natürlich. Doch Yohann rief aus: »Hat sie sich nicht bewegt? Vielleicht klemmt sie nur bei Feuchtigkeit.« Er drängte sich an Lina vorbei, drückte seinerseits die Klinke und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, die ruckartig nachgab.»Voilà«, sagte er und machte eine einladende Geste.
Verblüfft trat Lina über die Schwelle.
Ein ganz kleines Zimmerchen mit übergroßem Kamin - der war allerdings mit breiten Bohlen verschlossen. Ein schön geschnitztes Bett, ein passender Nachttisch und ein Kleiderschrank mit Spiegeltüren; ein altes Schreibpult mit Stuhl. Das war sie, die Einrichtung. »Und wie soll man hier heizen?«, fragte Lina. Sie fand es hier drinnen fast kälter als draußen.
»Unten ist noch ein Kamin; vermutlich mit eingebautem Holzofen. Die heizen sehr gut, die Wärme steigt bis hier oben. Wollen wir nachsehen?« Yohann wies auf die Treppe zum Erdgeschoss.
Vorsichtig tastete Lina sich nach unten. Wie er gesagt hatte - im Erdgeschoss nahm der Kamin fast eine ganze Wandbreite ein; ein schwarzer Holzofen stand darin. Vor dem Kamin standen eine kurze Couch und ein kleiner Sessel; ansonsten blieb in dem Zimmerchen gerade mal Platz für eine Küchenzeile an der Rückwand, der Haustür gegenüber, und für ein Esstischchen mit zwei Stühlen.
»Für Hobbits. Sagte ichs doch«, murmelte Lina für sich.
»Wie bitte?«, fragte Yohann.
»Ach, nichts. Ich habe noch nie mit Holz geheizt. Und viel Brennholz sehe ich hier auch nicht.«
»Hinter dem Haus ist ein Schuppen, da könnte noch mehr Holz zu finden sein. Soll ich Ihnen ein Feuer machen?«
Überrascht hob Lina die Brauen. »Das kriege ich schon hin«, wehrte sie dann ab; in ihren eigenen Ohren klang es zu schroff. »Und was ist in dem geheimnisvollen Kasten da, in der Ecke neben der Haustür«, setzte sie daher in gespielt heiterem Tonfall nach.
»Vermutlich der Stromzähler«, antwortete er, ohne nachzudenken - und sah plötzlich wieder das brennende Haus der Meuniers vor sich, roch den beißenden Qualm. Es fröstelte ihn; er nahm sich zusammen und ging zu dem Kasten. Der war nur mit einem Häkchen verschlossen, er öffnete es, zog die Tür auf - und da war er, der alte Zähler.
Es war so dämmrig, so merkwürdig intim in diesem winzigen Zimmer, dass Lina eine gewisse Verlegenheit verspürte und das Bedürfnis, sie mit einer belanglosen Bemerkung zu überspielen; so sagte sie: »Bei uns in Paris ist letzte Woche der Stromzähler ausgetauscht worden, gegen einen digitalen.« Prompt biss sie sich auf die Lippen. Warum sprach sie von Paris?! - Falsches Thema!
»Ach ja?«, fragte Yohann sofort, und es lag ihm auf der Zunge, nun doch von dem Vorfall in Spézet zu erzählen; aber dann riss er sich zusammen. Sicherlich wollte die Durchnässte sich aufwärmen, ausruhen und allein sein, statt mit seinen persönlichen Sorgen belästigt zu werden! Er schaltete den Strom an. »Jetzt können Sie Licht machen. Bei dem Unwetter ist es dunkel wie am Abend, nicht?«
Sie fand den Lichtschalter. Im diffusen Licht der Deckenlampe sahen sich die beiden das erste Mal richtig an, in die Augen. Seine waren hellbraun, fast caramelfarben, mit durchdringendem und doch gütigem Blick. Sie hielten einen Moment Blickkontakt, dann lösten sie ihn und jeder tat so, als würde er das Zimmer genauer betrachten.
»So, ich sollte jetzt gehen«, kündigte er an, und als sie ihn nicht aufhielt, ging er zurück in den ersten Stock. Lina sah sich noch einmal kurz um, dann folgte sie ihm.
Er hatte den Schlafzimmerschrank geöffnet und zog eine Decke hervor. »Hier. Sie sind ganz durchgefroren. - Ah, ich meine, ein Auto gehört zu haben! Waren Sie mit Pierric verabredet? Das wird er sein. Also dann - willkommen in Saint-Hernin!« Er machte eine kleine Verbeugung und verließ hastig das Zimmer.
»Danke!«, rief Lina ihm hinterher, die Treppe hinunter, wobei sie bemerkte, dass der Regen aufgehört hatte.
Unten auf dem Bürgersteig kreuzten sich die Wege der beiden Männer.
»Yohann?«, rief der Ankömmling überrascht aus.
»Salut Pierric! Ich weiß nicht, ob du schon davon gehört hast, aber heute brannte es in Spézet...«
»Ach ja?« Pierric sah zum Linken der drei und war sichtlich mit den Gedanken bei einer anderen Sache.
»Reden wir morgen darüber? Deine Freundin ist oben«, informierte Yohann lakonisch, »schönen Abend noch.«
Pierric, den Haustürschlüssel in der Hand, sah ihm nach, wie er im Auto verschwand. »Und was machst du überhaupt hier? - Der ewige Helfer, hat doch wieder zugeschlagen«, murmelte er kopfschüttelnd. Dann blickte er auf. Im Rahmen der oberen Haustür stand eine vermummte Silhouette. Er atmete auf, freute sich auf die Begegnung. Lina!
4. Ziemlich beste Freunde
»Salut! Was gibt es Neues?« Pierric trat an den Schreibtisch seines sécrétaire adjoint, seines Stellvertreters, und griff nach der Post.
Yohann blickte von seiner Arbeit auf und erklärte: »Das sind die Kostenvoranschläge von drei Unternehmen für die Gestaltung des Gartens hinter der Mairie. - Hast du einen Moment Zeit?«
»Danke. Hast du reingesehen?«
»Ich würde Le Gall nehmen. Hast du Zeit? Wir müssen über den Brand in Spézet...«
Aber Pierric fiel ihm ins Wort: »Ich weiß über die Sache Bescheid. Jetzt sehe ich mir erst einmal diese Unterlagen an.« Er verschwand im Nebenzimmer, seinem Bürgermeisterbüro.
Yohann ließ die Finger nervös über die Schreibtischplatte trommeln. Sollte er ihm folgen? Aber dann wandte er sich doch vorerst wieder seiner Arbeit zu.
Die Dorfbibliothek war seine Idee gewesen. Sie nahm einen großen Teil des kleinen Rathausvorzimmers ein, das nicht viel Platz für Bücher und Filme bot. So hatte er mit dem bretonischen Bibliotheksverband die Lösung gefunden, den kleinen Bestand alle vier Monate zur Hälfte durch Leihgaben aus anderen Bibliotheken zu ersetzen. Die nächste Leihe bereitete er eben vor. Doch war er heute nur halb bei der Sache; er hatte einen großen Teil des Morgens an Recherchen zum Linky gesessen.
Hinter der offenen Tür des Bürgermeisterbüros hörte er Papierrascheln, ein Hüsteln, dann erschien Pierric im Türrahmen und fragte: »Sag mal, wie kam es gestern zu deiner Begegnung mit Lina?«
Pierric und seine Freundinnen. Yohann zuckte mit den Achseln und antwortete: »Sie ging im Regen spazieren, ich habe sie ins Dorf zurückgefahren.«
»Ja, aber was für einen Eindruck hat sie auf dich gemacht?«
»Einen durchnässten.«
»Scherzkeks. Du weißt schon, was ich meine.«
Er hatte durchaus eine Ahnung davon, worauf sein Freund und Vorgesetzter hinaus wollte, wollte darauf jedoch nicht eingehen. Er setzte die Brille ab, die er zum Arbeiten am Rechner trug, und lehnte sich zurück. »Sie war wirklich durchnässt. Und sie wirkte orientierungslos, ein wenig verloren .«
»Hm.« Pierric steckte die Hände in die Hosentasche und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Ich war schockiert, als ich sie sah.«
Yohann hob fragend eine Augenbraue, doch widerwillig neugierig gemacht.
Durch Pierric ging ein Ruck und er begann, gleichzeitig zu gestikulieren und zu reden: »Das war nicht Lina! Wenn du sie gesehen hättest, vor zehn Jahren, du hättest sie jetzt nicht wiedererkannt! Ich habe sie nicht wiedererkannt! Sie war damals - unglaublich!« Er rang mit den Händen. »Sie war nicht nur schön, Lina hatte eine Aura! Einen Charme - sie war so mitreißend energiegeladen; sie war kreativ, intelligent, ja, und witzig: Sie hatte so einen eigenen, scharfsinnigen Humor.«
Читать дальше