Jeph
„Jetzt reicht‘s, du blöder Hund, hier will jemand schlafen! Halt endlich deine Schnauze!“
Der Mann, der ihn so unsanft wachgerüttelt hatte, legte sich wieder auf sein schmales Bett und drehte ihm unmissverständlich den Rücken zu.
Jeph zitterte, atmete heftig. Sein Brustkorb arbeitete wie ein Blasebalg. Nur langsam registrierte er, dass das viele Blut, das geradezu in Bächen die Wände herunter gelaufen, von der Decke getropft und in hellroten Blasen aus Mündern und Wunden gequollen war, nur in seinem Traum existierte. Er war dem Monster, das ihn an den Haaren gepackt und sich als sein Bettnachbar entpuppt hatte, sogar dankbar, dass es ihn weckte, bevor es ihn erstickte.
Die Wirklichkeit, in die er nun zurückkehrte, war aber auch nicht viel besser als dieser grauenhafte Traum. Er starrte zu der makellos weißen Decke hinauf. Spürte den Menschen, der nur einen Meter neben ihm lag, wie auch er in einer Lage, von der er niemals dachte, sich je zu befinden. Von der kratzigen Wolldecke befreit ließ er seinen schweißbedeckten Körper abkühlen und hörte im Geist wieder die bemüht freundliche Stimme der Sozialarbeiterin: „Zimmer fünf, im Gang hinten rechts, das Bett links. Die Duschen sind im anderen Teil des Hauses. Es gibt heute Abendessen um achtzehn Uhr. Die Rotarierinnen machen das einmal die Woche. Es ist sehr begehrt. Wenn Sie sich beeilen...“
Es war ihm egal gewesen. Hunger hatte er sowieso keinen, und der Mief von scharfem Putzmittel und Verzweiflung wirkte alles andere als appetitanregend. Immerhin hatte sie ihn nicht geduzt.
Der Mann, der ihn gerade so freundlich geweckt hatte — Fred hieß er — hatte gestern Abend seine Portion dankbar verputzt und ihn dann mit ein paar Tipps versorgt. Zum Beispiel, wie man mit der Tusse am Empfang umzugehen hätte; wo man günstig an besseren Fusel käme; wen man meiden solle wie die Pest. Panisch griff er unter sein Kopfkissen, atmete auf. Sein Geldbeutel war noch da. Als er vor gerade mal zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden war und mit seiner schweren Tasche hier eintraf, war ihm noch gar nicht richtig bewusst gewesen, in welch misslicher Lage er sich befand. Denn diese Tasche enthielt alles, was ihm geblieben war.
„Du solltest langsam deinen Arsch hochkriegen. Wenn du noch was von der Brühe, die sie hier Kaffee nennen, haben willst.“
Jeph, der wieder in seine Decke vergraben vor sich hin grübelte, hatte nicht bemerkt, dass es draußen immer heller wurde, die Geräuschkulisse lauter, die Tonart rauer.
„Neu in der Szene, was?“ Das zerfurchte Gesicht seines Zimmergenossen, zumindest das, was unter dessen grau meliertem Bart noch zu sehen war, zeigte so etwas wie Mitgefühl. „Schau, dass du schnell wieder da raus kommst. Sonst...“
Er wies mit dem Kinn auf die abgewetzte Tasche und die Beutel, die am Kopfende seines Betts lagen. Dann zog er einen zerschlissenen Anorak über seinen warmen Pullover und schlurfte zur Tür.
„Komm schon, Kumpel, du brauchst was zwischen die Zähne. Ich hab gestern bei Macdonalds noch ein paar Brötchen abgestaubt. Und Kaffee und Tee bekommen wir hier umsonst.“
Jeph rappelte sich auf, schlüpfte in den unsäglich glänzenden Trainingsanzug, den ihm die Sozialarbeiterin vorgestern noch im Krankenhaus vorbeigebracht hatte. Und der jetzt schon roch als hätte man ihn seit Wochen nicht gewaschen. Egal, es war ja nur ein Penner, dem er nun folgte.
Orientierungslos stand er Stunden später mitten auf einer Kreuzung in der Stadtmitte und zuckte vor einer schrillen Hupe zurück. Wusste nicht, wie er hierher gekommen war. Fast wäre er über seine Tasche gestolpert als er sich beeilte über die Straße zu gelangen. Der ausdruckslose Blick eines Bettlers gab ihm den Rest. Überall sah er sie plötzlich: in einem Hauseingang, in einer Unterführung, am Brunnen. Er hetzte weiter. Vor der Kirche saß schon wieder eine dieser Gestalten.
Die Kirche. Hier hatte seine Tante immer einen Zwischenstopp eingelegt, wenn sie ihre schweren Taschen vom Markt nach Hause trug. „Da find‘st wenigstens immer an freien Platz“, hatte er ihre lachende Stimme noch im Ohr. Fühlte fast ihre Hand, mit dem sie ihm durch die kurzen Haare fuhr. Fluchtartig wandte er sich ab.
„Es gibt immer einen Weg, Seppi!“ Fast meinte er zu hören, wie sie es ihm hinterher rief. Sie hatte sich geweigert, ihn Joseph zu nennen wie ihn seine Eltern genannt hatten. „Dschausef“, mit dieser englische Version kam sie nicht zurecht. Und Jeph, wie ihn seine Freunde nannten, das lag ihr nicht. Für sie und ihren Mann blieb er Seppi. Punkt.
Wo bitte, liebe Tante, wo ist denn nun dieser Weg?, murmelte er in sich hinein. Dieses Mal würdest auch du garantiert keinen finden.
* * *
Die Sonne wärmte die Hausmauern und Straßen. Kinder auf dem Spielplatz im Park lärmten ausdauernd. Jede Bank war belegt von Müttern, die sich unterhielten, Kinderwagen schaukelten und ihre Kleinen beobachteten. Zwei ältere Herren, die dem schönen Wetter nicht trauten und sich in dick wattierte Jacken eingepackt hatten, teilten sich eine Zeitung. Ein Stück weiter, unter den Bäumen am Ufer des Weihers saß eine schmächtige Frau, die ihm Rücken und hängende Schultern zukehrte und Spatzen fütterte. Jephs Magen knurrte. Der Imbissbude mit dem köstlichen Duft nach gebratenen Würsten war er vorher erfolgreich ausgewichen — er musste seine kleine Barschaft zusammenhalten — aber es war schon eine Weile her seit dem kargen Frühstück. Er war drauf und dran der arglosen Frau, hinter der er gerade vorbei lief, das große Wurstbrot aus der Hand zu reißen. Sie zupfte schon wieder ein Stückchen ab und warf es den wartenden Vögeln zu. Am liebsten hätte er sich mit ihnen darum gestritten.
„Wenn Sie wollen, können sie es haben.“
Sie drehte sich nicht um. Nur durch die Bewegung, mit der sie das Brot hochhielt sah er einen kleinen Teil ihres blassen, verweinten Gesichts. Er war hier wohl nicht der Einzige mit Problemen.
Ohne weiter nachzudenken schnappte er sich den verlockenden Happen. „Danke“, brachte er gerade noch heraus. Dann flüchtete er tiefer hinein in den Stadtgarten.
Er musste endlich was unternehmen, aber er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Herrgott nochmal, er war doch sonst nicht auf den Kopf gefallen! Vielleicht, wenn er etwas gegessen hätte. Er hielt immer noch das in Papier eingewickelte, kaum angebissene Sandwich in der Hand, suchte eine ruhige Ecke. Sein Blick schweifte über den schattigen Platz, der sich gerade vor ihm auftat und blieb an der Gestalt hängen, die neben einem überladenen Fahrrad auf einem steinernen Blumenkübel saß. Sein Bettnachbar. Fred. In den Händen eine Ausgabe der örtlichen Obdachlosenzeitung, die er gerade einem der wenigen Spaziergänger andrehen wollte. Erfolglos.
Schnell drehte Jeph sich weg, tat als hätte er ihn nicht bemerkt. Nicht gesehen, wie der potentielle Kunde ebenfalls sein Gesicht abwandte und seine Schritte beschleunigte. Jeph schulterte seine Tasche. Würde seine Zukunft nun auch so aussehen? Ihn schauderte. Doch das war im Moment seine kleinste Sorge. Was war passiert an diesem Tag, der ihn für Wochen ins Krankenhaus gebracht hatte? Was hatte er getan oder nicht getan? Er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern...
Kira
Ich sollte nach Hause. Sie macht sich bestimmt schon furchtbare Sorgen... Kira konnte sich nicht aufraffen. Es war so schön hier, so friedlich. Es ging ihr auch wieder relativ gut. Und das, obwohl sie heute morgen schon wieder vergessen hatte, ihre Tabletten zu nehmen. Gerade vorher hatte sie das festgestellt, aber ihre Panikattacke hielt sich in Grenzen. Es war ihr so langsam alles egal. Dieses ewige Auf und Ab. Wie sie es hasste!
Sie hatte sich so auf diese Reise nach Paris gefreut. Mit ihrer Freundin loszuziehen, ohne ihre ewig besorgte Mutter, die bei jedem ihrer Huster das Schlimmste befürchtete. Sie selbst hatte in den vergangenen Wochen strenger als sonst auf ihre Ernährung geachtet, ihre Medizin genau nach Stundenplan eingenommen, den bitteren Kräutertee, der angeblich so gesund sein sollte, unter Todesverachtung geschluckt, jede Anweisung ihres Arztes genauestens befolgt. Sie hatte das Gefühl, dass es jetzt endlich, endlich aufwärts ging. Seit Monaten hatte sie keine erwähnenswerten Probleme gehabt. Laura, ihre neue und einzige Freundin, die sie vor kurzem in der Bibliothek kennengelernt hatte, hatte ihre Mutter bekniet: „Ich werde gut auf Kira aufpassen, das verspreche ich Ihnen, Frau Martens. Ich habe eine SanitäterAusbildung, bin Ersthelferin bei uns im Betrieb. Auch der Reiseveranstalter hat einen sehr guten Ruf. Beste Betreuung ist also garantiert.“
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