Die Befunde zu Freundschaftsbeziehungen sind jedoch nicht einheitlich. Kinder mit geistiger Behinderung finden – unabhängig davon, ob sie integrative oder homogen zusammengesetzte Gruppen besuchen – signifikant seltener Freunde/Freundinnen als Kinder mit leichteren (z. B. sprachlichen) Entwicklungsstörungen. Diese Schwierigkeiten in der Entwicklung reziproker Freundschaften sind offenbar dauerhaft. Sie finden sich auch bei Verlaufsstudien, wenn Kinder mit kognitiven Entwicklungsstörungen in den ersten Schuljahren in integrativen Klassen nachuntersucht werden (Guralnick, Neville, Hammond & Connor, 2007). Kinder mit leichteren (Sprach-) Behinderungen unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von Kindern mit unauffälliger Entwicklung (Guralnick et al., 1996).
Die Häufigkeit sozialer Kontakte und die Entwicklung von positiven Beziehungen zu anderen Kindern der Gruppe hängen auch von den Vorerfahrungen ab, die die Kinder im Kontext der Familie gemacht haben. Die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung ist ein bedeutsamer Prädiktor für die Entwicklung sozialer Beziehungen zu anderen Kindern; d. h. Kinder mit positiven Beziehungserfahrungen und einer sicheren Bindung zu ihren Eltern entwickeln mit höherer Wahrscheinlichkeit auch im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung positive soziale Beziehungen. In der alltäglichen Interaktion mit ihren Eltern erleben sie z. B., wie Emotionen am mimischen Ausdruck zu erkennen sind, Gefühle reguliert werden können, mit Ärger und Konflikten umgegangen wird (Guralnick, 1999).
Eltern können soziale Kompetenzen im Umgang mit anderen Kindern explizit fördern, indem sie dem Kind z. B. bei Besuchen oder auf dem Spielplatz zeigen, wie es mit anderen Kindern in sozial angemessener Form Kontakt aufnehmen, sie ansprechen oder Konflikte lösen kann. Sie können ihrem Kind helfen, in Kontakt mit anderen Kindern zu kommen, indem sie soziale Netzwerke aufbauen, um es Erfahrungen mit sozialen Situationen sammeln zu lassen. Eltern behinderter Kinder bleibt dafür oft weniger Zeit, weil sie mit vielfältigen Anforderungen in Therapie und Alltag ausgelastet sind.
Guralnick, Connor, Neville und Hammond (2002) befragten Mütter zu ihren Bemühungen, Spielkontakte zu anderen Kindern zu schaffen. Mütter von Kindern mit Spracherwerbsstörungen unternahmen weniger solche Versuche als Mütter von Kindern mit unbeeinträchtigter Entwicklung; Mütter von Kindern mit einer allgemeinen Entwicklungsstörung unterschieden sich signifikant von beiden Gruppen.
Außerdem scheinen sie sich in ihrer grundsätzlichen Einschätzung von anderen Eltern zu unterscheiden, welchen Einfluss sie auf die soziale Entwicklung ihrer Kinder haben. So fand Booth (1999), dass Mütter behinderter Kinder dem Erwerb sozialer Kompetenzen zwar eine hohe Bedeutung zumaßen, aber eher dazu neigten, Defizite ihrer Kinder in sozialen Kompetenzen als Ausdruck der Behinderung anzusehen und somit als wenig beeinflussbar zu betrachten.
2.4 Entwicklungsverläufe bei integrativer Förderung
Die Übersicht über die Forschung erlaubt somit zwei Schlussfolgerungen:
1. Die Voraussetzungen zur Entwicklung positiver sozialer Beziehungen behinderter Kinder zu anderen Kindern – Häufigkeit sozialer Kontakte und Bildung von Freundschaften – sind in integrativen Gruppen günstiger als in Sondereinrichtungen.
2. Jedoch besteht auch in diesem Kontext ein besonderer Hilfebedarf bei Kindern mit eingeschränkten kognitiven oder kommunikativen Fähigkeiten zur Förderung sozialer Kompetenzen.
Kommunikative Fähigkeiten im Dialog, Initiative und Ausdauer im sozialen Spiel, Verstehen sozialer Absichten und Situationen, Empathie, emotionale Selbstregulation, Flexibilität und Strategien zur Konfliktlösung sind Voraussetzungen für das Gelingen sozialer Integration.
Eine effektive pädagogische Arbeit an diesen Zielen erfordert eine sorgfältige Beobachtung der Fähigkeiten und des Hilfebedarfs des einzelnen Kindes. Die Ziele und pädagogischen Handlungsstrategien sind für jedes Kind individuell zu bestimmen. Eine befriedigende soziale Integration ist erst dann erreicht, wenn die sozialen Beziehungen des behinderten Kindes eine ähnlich positive Qualität haben wie die Beziehungen der nicht behinderten Kinder in der Gruppe – und wenn seine Fortschritte in motorischen, kognitiven, sprachlichen und adaptiven Kompetenzen zumindest nicht geringer sind als beim Besuch einer Einrichtung für behinderte Kinder.
Ebenso große Fortschritte in integrativen Gruppen wie in separierten Einrichtungen. Ältere Forschungsarbeiten zum Entwicklungsverlauf behinderter Kinder – beurteilt mit standardisierten und normierten Entwicklungstests – kommen durchweg zu dem Schluss, dass sie sich unter integrativen Bedingungen ebenso gut entwickeln wie in Sondergruppen, d. h. sie von den dort bestehenden kleineren Gruppen und der dort gebotenen sonderpädagogischen Förderung per se nicht mehr profitieren (Fewell & Oelwein, 1990; Harri, Handleman, Kristoff, Bass & Gordon, 1990; Jenkins et al., 1989). Die Mehrzahl dieser Studien bezog sich allerdings auf relativ kleine Stichproben; so umfassten nur drei der 22 Studien, über die Buysse und Bailey (1993) in einer Übersichtsarbeit zu dieser Frage berichteten, mehr als 30 Kinder.
Bruder und Staff (1998) berichten z. B. über den Entwicklungsverlauf von 37 Kindern, von denen im Alter von zwei Jahren 18 Kinder in eine sonderpädagogische und 19 Kinder in eine integrative Gruppe aufgenommen wurden, über einen Zeitraum von sechs und zwölf Monaten. Bei 14 Kindern lagen allgemeine Entwicklungsrückstände vor, bei je neun Kindern körperliche oder mehrfache Behinderungen, bei zwei Kindern eine geistige Behinderung, bei je einem Kind eine Sinnesbehinderung oder Autismus-Spektrum-Störung. Zu jedem der drei Messzeitpunkte wurde ein allgemeiner Entwicklungstest, ein Motoriktest und ein Sprachtest durchgeführt. Die täglichen Betreuungszeiten in der integrativen Gruppe waren zwei Stunden pro Woche länger; die Kinder, die eine Einrichtung für behinderte Kinder besuchten, erhielten doppelt so viel zusätzliche Einzelförderung (vor allem Sprach- und Ergotherapie). Die integrativen Gruppen umfassten mehr Kinder; die Zahl der pädagogischen Fachkräfte und die pädagogische Qualität der Betreuungseinrichtungen (beurteilt mit einem Ratingverfahren) unterschieden sich nicht. Die Ergebnisse der Entwicklungstests zeigten in beiden Gruppen einen gleich großen Fortschritt: Demnach führte das höhere Maß an Einzeltherapien, das die Kinder in den sonderpädagogischen Gruppen erhielten, nicht zu einem besseren Entwicklungsverlauf als die zeitlich längere Betreuung in den integrativen Gruppen.
Studie: Entwicklungsverlauf behinderter Vorschulkinder in integrativen und Sondereinrichtungen
Rafferty, Piscitelli und Boettcher (2003) verglichen den Entwicklungsverlauf von 96 Kindern im Alter zwischen drei und fünf Jahren über einen Zeitraum von acht Monaten; die Hälfte der Kinder wurde in integrativen Gruppen gefördert, die andere Hälfte besuchte Sondereinrichtungen. Der Entwicklungsfortschritt von Kindern mit leichter oder schwerer Beeinträchtigung war dabei jeweils unabhängig davon, ob sie eine integrative Gruppe oder eine Sondereinrichtung besucht hatten.
Als zusätzlicher Befund ergab sich, dass die schwerer behinderten Kinder in den integrativen Gruppen größere Fortschritte in ihrer sozialen Kompetenz gemacht hatten als die Kinder in Sondereinrichtungen (
Abb. 5).
Abb. 5: Relative Entwicklungsfortschritte leicht vs. schwer behinderter Kinder in integrativen vs. separierten Gruppen (Daten aus Rafferty et al., 2003)
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