Ziel der integrativen Maßnahmen ist es, eine systematische Ausgrenzung behinderter Kinder zu verhindern und ihnen die gleichen Chancen auf soziale Kontakte, Anerkennung und Freundschaften zu ermöglichen wie nicht behinderten Kindern. Die Entwicklung sozialer Kompetenzen und sozialer Beziehungen im frühen Kindesalter soll daher zunächst kurz beleuchtet werden, um die empirischen Befunde besser einordnen zu können, die zu Kindern mit Behinderungen vorliegen.
2.1.1 Sozial-kognitive Fähigkeiten und emotionale Selbstregulation
Soziale Kompetenzen in der Interaktion mit anderen Kindern lassen sich definieren als die Fähigkeit, eigene (soziale) Ziele in angemessener Form und mit Erfolg in der Gruppe verfolgen zu können. Soziale Herausforderungen liegen dabei vor allem in der aktiven Kontaktaufnahme zu anderen Kindern, der Beteiligung an einem gemeinsamen Spiel und der Lösung von Konflikten, die dabei entstehen. Die Bewältigung dieser Aufgaben erfordert sowohl Fähigkeiten der sozialen Informationsverarbeitung (soziale Kognition) wie auch der emotionalen Selbstregulation.
Zu den sozial-kognitiven Prozessen gehört
• die Aufmerksamkeit für soziale Signale,
• ihre angemessene Interpretation,
• das Verstehen sozialer Absichten und Zusammenhänge,
• das Beachten sozialer Regeln und
• ein Wissen um Handlungsstrategien zum Verfolgen eigener Ziele
• sowie die Fähigkeit, diese Handlungsstrategien und ihre Konsequenzen zu bewerten.
Emotionale Selbstregulation umfasst die Fähigkeiten,
• die eigenen Handlungen zu steuern und
• emotionale Reaktionen wie Ärger oder Ängstlichkeit zu kontrollieren (Dodge, Pettit, McClaskey & Brown, 1986; Guralnick, 1999).
Die Entwicklung sozialer Kompetenz ist von individuellen und sozialen Faktoren abhängig. Zu den sozialen Faktoren gehören
1. die Erfahrungen, die ein Kind in seiner Familie im Rahmen der Eltern-Kind-Beziehung oder der Beziehung zu seinen Geschwistern macht,
2. die Konstellation der Gruppe, auf die es trifft, sowie die Qualität des sozialen Klimas in dieser Gruppe
3. und die Unterstützung durch die pädagogische Fachkraft.
Zu den individuellen Faktoren gehören seine Temperamentsanlage, seine Fähigkeiten zu Aufmerksamkeitssteuerung, kognitiver Verarbeitung, Handlungsplanung und Gedächtnisleistungen, die ihm als grundlegende kognitive Funktionen zur Bewältigung von Alltagsanforderungen zur Verfügung stehen, sowie seine kommunikativen Fähigkeiten. Sie sind für die Abstimmung der Aufmerksamkeit auf ein gemeinsames Thema mit einem Interaktionspartner, die Mitteilung eigener Wünsche und Vorhaben sowie das Aushandeln von Absprachen und Konfliktlösungen von Bedeutung. Hay, Payne und Chadwick (2004) leiteten in einer Übersichtsarbeit daraus sechs Vorläuferfertigkeiten ab, die Kinder in den ersten Lebensjahren als Voraussetzung für harmonische Interaktionen mit Gleichaltrigen und die Bildung von Freundschaften entwickeln (
Abb. 3).
Abb. 3: Vorläuferfähigkeiten für die Entwicklung harmonischer Beziehungen mit Gleichaltrigen (Daten aus Hay et al., 2004)
Kinder mit Behinderungen können in der Entwicklung sozialer Beziehungen zu anderen Kindern in vielfältiger Weise beeinträchtigt sein. Schwere Hör- oder Sehschädigungen haben unmittelbaren Einfluss auf die Möglichkeiten zur sozialen Beteiligung, kognitive Behinderungen erschweren das Verständnis sozialer Situationen und den Erwerb von sozialen Handlungsfähigkeiten, Störungen des Spracherwerbs können die Verständigung über gemeinsame Spielideen, Störungen der Selbstregulation die Steuerung der Aufmerksamkeit, der eigenen Handlungen und der emotionalen Reaktion in kritischen Momenten misslingen lassen. Schwierigkeiten in der Gestaltung sozialer Beziehungen lassen sich aus einer Kombination dieser individuellen Voraussetzungen der Kinder und der Rahmenbedingungen, auf die sie im Kindergarten treffen, verstehen. Die Untersuchungsergebnisse zur Bedeutung dieser Rahmenbedingungen sollen zunächst vorgestellt werden, bevor spezifische Probleme und pädagogische Interventionen bei den einzelnen Behinderungsformen in den Kapiteln 3 und 4 erörtert werden.
2.2 Spielangebot, Verhalten der pädagogischen Fachkraft und Gruppenzusammensetzung
Eine Entwicklung der sozialen Kognition und emotionalen Regulation in sozialen Situationen sind auf Lerngelegenheiten in der Interaktion mit anderen Kindern angewiesen. Dass in integrativen Gruppen mehr Gelegenheiten zu sozialen Kontakten entstehen, stellt somit eine günstige Voraussetzung für Lernfortschritte in diesem Bereich dar. Die Aufnahme in eine solche Gruppe allein ist jedoch keine Garantie für das Gelingen einer sozialen Integration. Sie hängt auch von den materiellen und sozialen Rahmenbedingungen ab, die das Kind dort vorfindet.
2.2.1 Spielangebot und -inhalte
Zu den materiellen Rahmenbedingungen gehören die räumlichen Gegebenheiten in der Gruppe, die Art der verfügbaren Spielmaterialien, die Zahl der Kinder in der Gruppe und der Personalschlüssel, d. h. das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen. Klar voneinander abgegrenzte Bereiche für die verschiedenen Aktivitäten in der Gruppe begünstigen z. B. die Bildung von Kleingruppen und die aktive Beteiligung der Kinder. Eine geringe Ausstattung mit Spielsachen kann Konflikte zwischen den Kindern eher provozieren. Bei einem reichhaltigen Spielzeugangebot besteht andererseits die Möglichkeit, dass sich die Kinder ausgiebig allein beschäftigen, statt miteinander zu spielen. Puzzles, Knete und Bücher legen eher eine isolierte Beschäftigung nahe, Sand, Wasserspielzeug und Buntstifte eher parallele Aktivitäten, Puppen, Haushalts- und Verkleidungsmaterial eher ein soziales Spiel.
Ivory und McCollum (1999) beobachteten die Spielformen behinderter Kinder und variierten dabei systematisch die Verfügbarkeit von Spielsachen. Kooperatives Spiel mit anderen Kindern ergab sich häufiger, wenn solche Materialien verfügbar waren. Doch auch bei einem breiten Angebot von Spielsachen bleiben Unterschiede, welche Aktivitäten Kinder mit und ohne Behinderung bevorzugen.
Belege für die Bedeutung des Spielangebots für die Entwicklung sozialer Kontakte behinderter Kinder finden sich in einer Meta-Analyse von 13 Studien von Kim et al. (2003), die zeigte, dass die Verfügbarkeit von Spielsachen, die zu sozialen Aktivitäten einladen, einen nachhaltigen Einfluss auf die aktive soziale Beteiligung der Kinder in einer Gruppe hat. Häufiger sind sie auch bei Aktivitäten, bei denen eine gewisse Struktur vorgegeben ist (z. B. Doktorspiele oder Kaufläden), seltener bei wenig strukturierten Beschäftigungen (z. B. Wasserspiele, Malen; DeKlyen & Odom, 1989).
Kohl und Beckman (1984) beobachteten die sozialen Kontakte bei 3- bis 5-jährigen Kindern. Während soziale Interaktionen zwischen Kindern ohne Behinderungen in den Freispielzeiten am häufigsten (und doppelt so oft wie bei behinderten Kindern) zu beobachten waren, entstanden soziale Kontakte der behinderten Kinder am häufigsten während der gemeinsamen Mahlzeiten. Für die pädagogische Praxis bedeutet dies, dass die Strukturierung des Gruppengeschehens und die Anregung zu sozialen Spielformen eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen sozialer Integrationsprozesse sind.
Studie: Spielpartner von behinderten und nicht behinderten Kindern in integrativen Gruppen
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