Anmerkung: Nur eine Auswahl an Kategorien, daher summieren sich die Spalten nicht zu 100 %.
Behinderte Kinder bevorzugen – wenn sie die Möglichkeit dazu haben – nicht behinderte Kinder als Spielpartner (Guralnick et al., 1996). Zumindest für Kinder mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten bedeutet das aber nicht, dass sie das gleiche Niveau von Spiel- und Sozialkompetenzen erreichen wie Kinder gleichen Alters mit unbeeinträchtigter Entwicklung. Kinder mit Lernbeeinträchtigungen haben vielmehr weniger und kürzere soziale Kontakte als sie, zeigen mehr negative Verhaltensweisen und weniger Kompetenz zur Konfliktlösung und haben weniger Erfolg bei ihrem Versuch, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen.
Das liegt nicht an mangelnder Bereitschaft der nicht behinderten Kinder, sich auf sie einzustellen. Kinder mit Behinderungen werden deutlich seltener als erste Wahl von Spielpartnerinnen und Spielpartnern in Spielsituationen genannt (Ytterhus, 2008). Wenn ältere Kinder mit unbeeinträchtigter Entwicklung sich ihnen im Kindergarten zuwenden, versuchen sie jedoch (wie in der Interaktion mit jüngeren Kindern), sich an die Verständnis- und Kommunikationsschwierigkeiten der behinderten Kinder anzupassen. Sie vereinfachen z. B. ihre Sprache und geben klare Anweisungen, übernehmen die Organisation von Spielabläufen; dennoch kommt es häufiger zu Konflikten, die die Interaktionen belasten.
Eindeutig bevorzugen sie jedoch nicht behinderte Kinder als Spielpartner/-in (Guralnick, 1999; Guralnick, Connor, Hammond, Gottman & Kinnish, 1995; Guralnick & Paul-Brown, 1989; Guralnick, Paul-Brown, Groom & Booth, 1998; Odom et al., 2002; Yu, Ostrosky & Fowler, 2015). Darin zeigt sich die Bedeutung des kommunikativen Austauschs für die Entwicklung sozialer Beziehungen. Kinder mit eingeschränkten kommunikativen Fähigkeiten sind in dieser Hinsicht benachteiligt und haben einen spezifischen Hilfebedarf.
Suhonen, Nislin, Alijoki und Sajaniemi (2015) beobachteten das Spielverhalten von 124 Kindern ohne und 89 Kindern mit besonderem Förderbedarf in integrativen Gruppen in Finnland. Es handelte sich um Kinder mit Sprachbehinderungen, Verhaltensauffälligkeiten und globaler Entwicklungsstörung. Sie waren wesentlich weniger an sozialen Spielformen beteiligt. Die Unterschiede waren bei Kindern mit globaler Entwicklungsstörung besonders deutlich.
Studie: Soziale Interaktion von Kindern mit Entwicklungsdefiziten in homogenen und integrativen Gruppen (Guralnick et al., 1995)
Zwölf Spielgruppen aus je sechs Kindern im Alter zwischen 4;2 und 5;5 Jahren wurden gebildet, die sich vorab nicht kannten (N = 72). Durch gezielte Zuordnung der Kinder entstanden drei verschiedene Gruppen. Die erste bestand nur aus Kindern mit Entwicklungsdefiziten (IQ 50-80), die zweite umfasste zwei Kinder mit Handicaps und vier Kinder mit unbeeinträchtigter Entwicklung (IQ 90-130), die dritte bestand nur aus Kindern ohne Behinderungen. Die Zusammensetzung wurde dabei systematisch nach Alter, Entwicklungsstand, Sprachkompetenzen u. a. parallelisiert. Die Spielgruppen trafen sich über zwei Wochen täglich für jeweils 2 ½ Stunden und boten die Möglichkeit zu Freispiel und gemeinsamen Aktivitäten, z. B. Kreisspielen, musikalischen Aktivitäten, Erzählen und gemeinsamen Mahlzeiten. Sie wurden von einer Fachkraft und einer Assistentin geleitet, die für die Kinder als Unterstützung im Spiel zur Verfügung standen, aber keine systematische Anleitung zu sozialen Kompetenzen gaben.
Das Spiel- und Sozialverhalten der Kinder im Freispiel wurde mit einem sehr differenzierten Kategoriensystem erfasst und zusätzlich die Stellung der einzelnen Kinder in der Gruppe mit soziometrischen Verfahren erhoben. Kinder mit unbeeinträchtigter Entwicklung beteiligten sich mehr am gemeinsamen Spiel, suchten häufiger die Kooperation anderer Kinder, machten mehr Vorschläge zur Spielgestaltung und gingen öfter auf die Vorschläge anderer Kinder ein.
Erhöhtes Risiko sozialer Ausgrenzung. Die Häufigkeit sozialer Interaktionen zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern sagt nun noch nichts über, die Qualität der sozialen Beziehungen behinderter Kinder in der Gruppe aus und wie deren sozialer Status ist. In soziometrischen Befragungen der Kinder selbst, mit welchem Kind sie gern spielen, und in Eltern und Erzieherinnenberichten zu den Freundschaften von Kindern im Kindergarten zeigt sich Unterschiedliches. Einige behinderte Kinder bleiben aufgrund ihrer sozialen Defizite in der Gruppe isoliert, andere werden sozial ausgegrenzt, eine dritte Gruppe von ihren Spielpartnern und -partnerinnen jedoch gut akzeptiert.
In einer Studie von Odom et al. (2002) traf das jeweils für etwa ein Drittel der 80 behinderten Kinder zu. Die sozial akzeptierten Kinder waren sozial kompetenter, hatten feste Freundschaften, beteiligten sich am sozialen Spiel, teilten anderen Kindern ihre Ideen mit, beachteten Gruppenregeln, verstanden soziale Situationen und hatten grundsätzlich Interesse an sozialen Interaktionen mit anderen Kindern. Kinder, die sozial abgelehnt wurden (d. h. in soziometrischen Ratings zu den drei am wenigsten beliebten Kindern der Gruppe gehörten) hatten wenige soziale Fertigkeiten, viele Konflikte mit anderen Kindern, zeigten aggressives oder sehr zurückgezogenes Verhalten.
Viele Kinder dieser Teilgruppe wiesen die Merkmale einer Autismus-Spektrum-Störung auf. Diese Kinder wurden teilweise von den anderen Kindern in das Gruppengeschehen einbezogen und erhielten ein ebenso hohes – aber offenbar nicht ausreichendes – Maß an Unterstützung von den Erzieherinnen wie die gut beteiligten und sozial akzeptierten Kinder, erlebten aber häufiger, dass sie aktiv ausgeschlossen wurden. Nur eines von 32 nicht behinderten Kindern, die ebenfalls in diese Untersuchung einbezogen wurden, aber 22 von 80 behinderten Kindern erlebten eine solche soziale Ablehnung. Das Risiko sozialer Ablehnung ist bei behinderten Kindern also offenbar wesentlich erhöht. Es gibt allerdings keinen Beleg dafür, dass soziale Ablehnung in integrativen Gruppen häufiger aufträte als in Gruppen, die sich ausschließlich aus behinderten Kindern zusammensetzen (Guralnick & Neville, 1997).
Das Risiko für soziale Ablehnung variiert mit dem Schweregrad der Behinderung. Ferreira, Aguiar, Correia, Fialho und Pimentel (2017) untersuchten die soziale Akzeptanz, das soziale Netzwerk und die Freundschaftsbeziehungen von 86 Kindern mit Behinderungen in inklusiven KiTas in Portugal. Nach den soziometrischen Befragungen wurden vier Kinder von den anderen Kindern der Gruppe als Kontaktpartner/-in ignoriert und 34 Kinder aktiv sozial ausgegrenzt. Die Kinder, die sozial ausgegrenzt wurden, unterschieden sich von den anderen in zweierlei Hinsicht: Es handelte sich häufiger um Kinder mit schweren Behinderungen und sie zeigten nach Einschätzung der Erzieherinnen ein deutlich höheres Maß an Verhaltensstörungen.
2.3.2 Einfluss von Betreuungskontext, Art der Behinderung und familiärer Vorerfahrung auf die Bildung von Freundschaften
Berichte von Eltern und pädagogischen Fachkräften sprechen dafür, dass zumindest junge Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen weniger reziproke Freundschaftsbeziehungen zu anderen Kindern ausbilden als Kinder ohne Behinderungen gleichen Alters (Buysse, Nabors, Skinner & Keyes, 1997).
Buysse, Goldman und Skinner (2002) analysierten den Effekt unterschiedlicher Betreuungskontexte auf die Zahl der Freundschaften bei 330 Kindern im Alter zwischen 19 und 77 Monaten, darunter 120 Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen. 15 % der nicht behinderten, aber 28 % der behinderten Kinder hatten nach Einschätzung der pädagogischen Fachkraft keinen Freund/keine Freundin. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind mindestens einen Freund/eine Freundin hat, war (um das 1.7-fache) höher, wenn das Kind eine integrative Gruppe statt eines Sonderkindergartens besuchte. Die Schwere der Behinderung spielte für die Zahl der Freunde/Freundinnen keine Rolle.
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